juris PraxisReporte

Anmerkung zu:OLG Brandenburg 1. Senat für Bußgeldsachen, Beschluss vom 15.07.2024 - 1 ORbs 144/24
Autor:Dr. Benjamin Krenberger, RiAG
Erscheinungsdatum:06.11.2024
Quelle:juris Logo
Norm:§ 256 StPO
Fundstelle:jurisPR-VerkR 22/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Krenberger, jurisPR-VerkR 22/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Anforderungen an die Messung mit Vidista



Orientierungssatz zur Anmerkung

Enthält das Urteil weder Feststellungen zum Abstand des Polizeifahrzeugs zu dem verfolgten Auto des Betroffenen noch einen bei der Geschwindigkeitsmessung berücksichtigten Toleranzabzug, kann eine auf einer Messung mit Provida/Vidista beruhende Verurteilung keinen Bestand haben.



A.
Problemstellung
Das OLG Brandenburg hatte als Rechtsbeschwerdegericht eine erstinstanzliche Verurteilung zu prüfen, die auf einer Messung durch Nachfahren und nachträgliche Auswertung mittels des Programms Vidista beruhte. Das Oberlandesgericht rügte zutreffend die unzureichenden Feststellungen der Erstgerichts.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Amtsgericht hatte den Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaft um 53 km/h und um 46 km/h zu einer Geldbuße i.H.v. 640 Euro mit einmonatigem Fahrverbot verurteilt. Der Betroffene hatte eine Bundesautobahn befahren. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit war im von dem Betroffenen befahrenen Streckenabschnitt durch beidseits aufgestellte Beschilderung zunächst auf 130 km/h und sodann auf 120 km/h beschränkt. Im Bereich der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 130 km/h hatte der Betroffene in der Zeit von 10:53:24 Uhr bis 10:53:34 Uhr über eine Messstrecke von 478,79 Metern eine Geschwindigkeit von mindestens 176 km/h inne, im Bereich der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 120 km/h in der Zeit von 10:53:58 Uhr bis 10:54:09 Uhr über eine Messstrecke von 522,69 Metern eine solche von mindestens 173 km/h. Messtoleranzen nannte das Urteil des Tatgerichts nicht. Die Geschwindigkeit war in beiden Fällen durch ein dem Pkw des Betroffenen folgendes Polizeifahrzeug mittels der nach den Feststellungen des Tatgerichts zum Zeitpunkt gültig geeichten Verkehrsüberwachungsanlage Provida 2000/Vidista gemessen worden, die konkrete Geschwindigkeit war durch eine Auswertung des Videofilms mittels der Vidista-Einheit der Verkehrsüberwachungsanlage ermittelt worden.
Das OLG Brandenburg hat auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.
Die Feststellungen des angefochtenen Urteils tragen den Schuldspruch nicht. Das Amtsgericht habe festgestellt, dass die Geschwindigkeitsmessungen durch Nachfahren mit einem Messfahrzeug unter Verwendung der Video-Verkehrsüberwachungsanlage Provida 2000/Vidista vorgenommen worden seien. Diese Messmethode gelte als standardisiertes Messverfahren im Sinne der Rechtsprechung des BGH. Das Urteil müsse deshalb feststellen, auf welcher tatsächlichen Grundlage die Geschwindigkeitsmessung beruhe. Das Urteil enthalte aber weder Feststellungen zum Abstand des Polizeifahrzeugs zu dem verfolgten Auto des Betroffenen noch einen bei der Geschwindigkeitsmessung berücksichtigten Toleranzabzug.


C.
Kontext der Entscheidung
Das OLG Brandenburg hat zunächst feststellen können, dass die hier verwendete Messmethode als standardisiertes Messverfahren anerkannt ist (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 19.08.1993 - 4 StR 627/92 - BGHSt 39, 291 = NZV 1993, 485 zum standardisierten Messverfahren allgemein; zu Provida: OLG Hamm, Beschl. v. 15.11.2000 - 2 Ss OWi 1057/00 Rn. 9; OLG Köln, Beschl. v. 30.07.1999 - Ss 343/99 B; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.06.2000 - 2b Ss (OWi) 125/00 - (OWi) 52/00 I). In Verfahren, denen eine als standardisiert geltende Messmethode zugrunde liegt, ist der Prüfungsumfang des Tatrichters zwar erleichtert, muss jedoch gewisse Mindestvoraussetzungen erfüllen. Hierzu kann der Tatrichter sich zuvorderst der in der Akte befindlichen Beweismittel bedienen. Dies sind das Messbild, das in Augenschein genommen wird, die darin bzw. darauf befindliche Datenleisten, die als Urkunde zu verlesen sind, das Messprotokoll, das der Tatrichter gemäß § 256 StPO verlesen kann (OLG Hamm, Beschl. v. 26.06.2014 - III-1 RBs 105/14, 1 RBs 105/14 - NStZ-RR 2014, 287), sowie der Eichschein, der verlesen wird und der z.B. die Konformitätsbescheinigung bereits als Information enthält.
Je nach Messverfahren kommen noch weitere Beweismittel wie ein Messfilm oder Videoprints aus dem Messvideo in Betracht. Kommen mehrere Messarten in Betracht, ist die verwendete Methode konkret zu benennen. Das Urteil muss deshalb feststellen, auf welcher tatsächlichen Grundlage die Geschwindigkeitsmessung beruht. Dazu gehören insbesondere Angaben darüber, ob die Messung durch elektronische Aufzeichnungen oder durch Ablesen, durch stationäre Geräte oder aus einem fahrenden Fahrzeug heraus erfolgte. Bei Nachfahrten kann es darauf ankommen, wie lang ggf. die Verfolgungsstrecke und wie groß der Abstand des Polizeifahrzeugs zu dem verfolgten Fahrzeug des Betroffenen waren und welcher Toleranzabzug bei der Feststellung der Geschwindigkeitsüberschreitung vorgenommen worden ist (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.11.2019 - 2 Rb 35 Ss 795/19; OLG Hamm, Beschl. v. 04.12.2008 - 3 Ss OWi 871/08).
Von den gemessenen Geschwindigkeitswerten sind bei Provida/Vidista höhere Sicherheitsabschläge als bei den sonstigen Messgeräten vorzunehmen: 5 km/h bei gemessenen Geschwindigkeiten bis 100 km/h und 5% bei gemessenen Geschwindigkeiten über 100 km/h (OLG Hamm, Beschl. v. 04.05.2010 - 2 RBs 35/10). Darin enthalten sind bereits mögliche Fehler des Bedienungspersonals und alle gerätetypischen Betriebsfehler (OLG Celle, Beschl. v. 10.06.2010 - 322 SsBs 161/10 - NZV 2011, 411). Bei der Geschwindigkeitsermittlung mittels des Provida-Systems ist den Darlegungsanforderungen regelmäßig genügt, wenn im Urteil Messverfahren und berücksichtigter Toleranzwert mitgeteilt werden (OLG Bamberg, Beschl. v. 25.01.2017 - 3 Ss OWi 1582/16 - SVR 2017, 395; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 02.06.2016 - Ss (Bs) 8/2016 (7/16 OWi), Ss (Bs) 8/16 (7/16 OWi) - DAR 2016, 534). Weiterer Angaben bedarf es nur, wenn die in Frage kommenden Betriebsarten unterschiedliche Toleranzabzüge gebieten oder die Messung nicht standardisiert erfolgt ist (OLG Bamberg, Beschl. v. 03.02.2014 - 2 Ss OWi 5/14 - DAR 2014, 334; OLG Bamberg, Beschl. v. 25.10.2011 - 3 Ss OWi 1194/11 - DAR 2012, 154). Keinesfalls aber darf – wie hier – der Toleranzabzug im Urteil fehlen.
Gleiches gilt für den (gleichbleibenden) Abstand zwischen Polizeifahrzeug und verfolgtem Fahrzeug. Denn bei Abweichungen von der Gebrauchsanweisung (Messung trotz deutlicher Annäherung des Messfahrzeugs an den Betroffenen ohne Abzug des Wegstreckenanteils der Annäherung) ist die Messung nur individuell prüfbar, gilt aber nicht mehr als standardisiert (OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.03.2024 - 1 ORbs 55/24).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Nicht nur das Messverfahren selbst bietet – auch dank des gut untersuchbaren Messmaterials – immer wieder Angriffspunkte für die Verteidigung, sondern auch eine wie hier erfolgte unzureichende Tatsachenfeststellung. Wird das Provida-System auch noch zu Messzwecken eingesetzt, die nicht als standardisiert gelten, ist der Tatrichter unter Umständen sogar zur Gutachtenseinholung gezwungen (AG Landstuhl, Beschl. v. 05.02.2022 - 2 OWi 4211 Js 8338/21).



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