juris PraxisReporte

Anmerkung zu:OLG Stuttgart 2. Zivilsenat, Urteil vom 11.04.2024 - 2 U 176/22
Autor:Dr. Michael Nugel, RA, FA für Verkehrsrecht und FA für Versicherungsrecht
Erscheinungsdatum:04.12.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 9 StVO, § 1 StVO
Fundstelle:jurisPR-VerkR 24/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Nugel, jurisPR-VerkR 24/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Haftungsquote bei Kollision mit einem abbiegenden „langen Lkw“



Leitsatz

Schwenkt beim Rechtsabbiegen eines Lang-Lkws die linke vordere Ecke seines Anhängers um ca. einen Meter nach links in die fremde Fahrbahn aus und kann der Fahrer den hierdurch gefährdeten Verkehrsraum nicht beobachten, muss sich der Fahrer von einer anderen Person einweisen lassen.



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Schwenkt ein „langer Lkw“ beim Abbiegen nach rechts um einen Meter nach links in eine fremde Fahrbahn aus und beobachtet der damit verbundene Fahrer den nachfolgenden Verkehr nicht ausreichend sorgfältig, liegt ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO vor.
2. Den in dieser Situation an dem Lkw vorbeifahrenden Fahrzeugführer trifft allerdings eine Mithaftung nach § 1 Abs. 2 StVO, wenn er ein solches Ausschwenken des Lkws erkennen muss und sich trotzdem auf engsten Raum „vorbei gedrängt“ hat.
3. Aufgrund der massiv erhöhten Betriebsgefahr durch diesen Abbiegevorgang liegt die deutlich überwiegende Haftungsquote in dieser Konstellation mit 75% allerdings aufseiten des „langen Lkws“.



A.
Problemstellung
Das OLG Stuttgart hatte über die Bildung mit der Haftungsquote bei der Kollision zwischen einem nach rechtsabbiegenden „langen Lkw“ und einem vorbeifahrenden Pkw unter Berücksichtigungen der besonderen Dimensionen dieses Lkws und der damit verbundenen Betriebsgefahr zu entscheiden.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Am Unfalltag stand der Beklagte zu 1) mit einem überdimensionierten Lkw in einer zweispurigen Abbiegespur und wartete an der Ampel auf Grünlicht. Es handelte sich dabei um einen „Lang-Lkw“ mit einer Gespannlänge von mehr als 25 Metern. Das Fahrzeug nahm teilweise während des Abbiegevorgangs auch die linke Spur in Anspruch. Während des Abbiegens kam es zur Kollision mit einem links daneben trotz der engen Verhältnisse vorbeifahrenden Fahrzeug des Klägers. Die Parteien stritten über die Haftungsquote.
Das OLG Stuttgart hat die deutlich überwiegende Haftung auf der Beklagtenseite unter Berücksichtigung der besonderen Dimensionen des „langen Lkws“ gesehen.
Dabei sei zu beachten, dass in die Haftungsabwägung neben einem möglichen Verschulden vor allem auch die mit den Fahrzeugen verbundene Betriebsgefahr einzustellen gewesen sei. Die Betriebsgefahr des langen Lkw-Gespanns auf der Beklagtenseite sei schon dadurch massiv erhöht gewesen, weil der Fahrzeugführer beim Abbiegevorgang teilweise die links daneben befindliche Fahrspur habe mitbenutzen müssen. Die Betriebsgefahr dieses Lkws sei weiter dadurch erheblich erhöht worden, dass der Anhänger beim Rechtsabbiegen an seiner vorderen linken Ecke weiter nach links ausschwenkt und der Fahrer in dieser Position gar nicht sicher beobachten könne, ob hierdurch der nachfolgende Verkehr beim Abbiegen gefährdet werde. Insoweit sei festzuhalten, dass der Lkw-Fahrer die fremde Spur teilweise bis zu einer Breite von einem Meter mit benutzt habe, ohne diesen Verkehrsraum sicher überwachen zu können. Hieraus ergibt sich aus Sicht des OLG zugleich ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO, wonach beim Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten sei, es sei denn die Gefährdung dieses Verkehrs könne sicher ausgeschlossen werden. Dies hätte vorliegend nur durch die Einschaltung eines Einweisers erreicht werden können, der vorliegend aber auf der Beklagtenseite nicht tätig gewesen sei.
Demgegenüber hätte allerdings auch der Kläger die Kollision vermeiden können, wenn er entsprechend dem Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO nicht an dem ausschwenkenden Lkw vorbeigefahren wäre. Für den Kläger sei auch ersichtlich gewesen, dass dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit beim Abbiegevorgang weiter ausschwenke, zumal das Gespann mit Überlänge sich zur Einleitung des Abbiegevorganges schon teilweise auf der Spur des Klägers befunden habe. Das Rücksichtnahmegebot habe es nahegelegt, in dieser Situation nicht an dem Lkw vorbeizufahren und die Gefahr einer Kollision zu riskieren.
Angesichts der massiv erhöhten Betriebsgefahr aus dem Abbiegevorgang mit den Dimensionen des Lkws und dem Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO hat das OLG Stuttgart einen überwiegenden Verursachungsbeitrag auf der Beklagtenseite gesehen und mit 75% bewertet. Der Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot auf der Klägerseite führt allerdings zu einer Mithaftung i.H.v. 25%.


C.
Kontext der Entscheidung
Dieser Fall zeigt anschaulich, dass in die Haftungsabwägung nicht nur ein Verschulden der beteiligten Fahrzeugführer, sondern alle weiteren Umstände einzustellen sind und es hier im Wesentlichen erst einmal um die Bewertung der von den Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahren geht. Diese können auch ohne ein Verschulden in einem ganz erheblichen Umfang wie vorliegend durch die Dimension des Lkws und das Ausschwenken dieses „langen Gespanns“ erhöht werden. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Gefahr, die regelmäßig und notwendigerweise mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges verbunden ist, durch ein Hinzutreten besonderer Umstände erhöht wird, die sich auch auf den Unfall ausgewirkt haben. Jedes Fahrmanöver, das besondere Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer mit sich bringt, führt zu einer erhöhten Betriebsgefahr (BGH, Urt. v. 11.01.2005 - VI ZR 352/03 - VersR 2005, 702; OLG Koblenz, Hinweisbeschl. v. 19.01.2023 - 12 U 1933/22; OLG Brandenburg, Urt. v. 28.11.2019 - 12 U 115/17 - RuS 2020, 104; Nugel, NJW 2013, 193). Kollidiert beispielsweise ein Gespann mit Überbreite auf einer engen Fahrbahn mit dem Gegenverkehr, der schuldhaft zu weit links gefahren ist, besteht trotzdem eine Mithaftung für den Halter/Fahrer des Gespanns aus der erhöhten Betriebsgefahr wegen der außergewöhnlichen Breite seines Kfzs (OLG Celle, Urt. v. 04.03.2020 - 14 U 182/19 - RuS 2020, 420). Die Betriebsgefahr erhöht sich jedenfalls verschuldensunabhängig, wenn es sich bei dem betroffenen Fahrzeug um ein Gespann handelt, das naturgemäß schwerer zu überblicken ist und dessen Fahrvorgänge langsamer sind bzw. das größere Ausmaße aufweist und mehr Platz auf der Fahrbahn belegt (OLG Hamm, Urt. v. 16.11.2018 - I-9 U 138/17; OLG Saarbrücken, Urt. v. 16.11.2017 - 4 U 100/16 - RuS 2018, 95). Vor diesem Hintergrund ist eine Haftung allein schon aus der immens erhöhten Betriebsgefahr des Lkw-Gespanns mit Überbreite bei dem vorliegenden Fall naheliegend und nicht zu beanstanden.
Diesem hinzu tritt auch der naheliegende Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO, der sowohl beim Abbiegen nach links oder rechts im Wege des Anscheinsbeweises vermutet werden kann und der sich hier durch die durchgeführte Beweisaufnahme auch noch erhärtet hat. Im Wege des Anscheinsbeweises wird jedenfalls ein schuldhafter Verstoß gegen die in § 9 Abs. 1 StVO normierte Verpflichtung zur doppelten Rückschau zulasten desjenigen vermutet, der im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall nach links abgebogen ist (OLG Hamm, Beschl. v. 08.01.2016 - 9 U 125/15 ; OLG Celle, Urt. v. 27.11.2018 - 14 U 59/18 - ZfSch 2019, 316; OLG Hamm, Urt. v. 07.03.2014 - 9 U 210/13; OLG Stuttgart, Urt. v. 04.06.2014 - 3 U 15/14 - Schaden-Praxis 2014, 404 ff.). Wegen dieser besonderen Sorgfaltspflichten haftet derjenige, der verkehrswidrig nach links abbiegt und dabei mit einem ihn ordnungsgemäß überholenden Kraftfahrzeug zusammenstößt, für den entstandenen Schaden grundsätzlich allein, ohne dass dem Überholenden die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs angerechnet wird (OLG Hamm, Urt. v. 08.07.2022 - 7 U 106/20; OLG Hamm, Urt. v. 04.02.2022 - I-26 U 39/21). Diese alleinige Haftung ist aber nicht zwingend.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Vielmehr ist auch zu beachten, dass ein nachfolgender Fahrzeugführer sich ein Vorrangrecht auf der eigenen Spur nicht erzwingen darf und soweit wie möglich gemäß dem Rücksichtnahmegebot versuchen muss, eine Kollision zu vermeiden. Dies entspricht auch der Rechtsprechung in anderen Konstellationen, wenn beispielsweise bei einem Vorfahrtsverstoß oder einem Fahrstreifenwechsel sowie einem anderen Abbiegevorgang ein überholender oder vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer die Gelegenheit hatte, eine Kollision zu vermeiden. Kann beispielsweise der bevorrechtigte Fahrzeugführer im fließenden Verkehr durch eine rechtzeitige Reaktion auf den einfahrenden Pkw die Kollision vermeiden, trifft ihn aufgrund eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO eine Mithaftung zu 25% (OLG Hamm, Urt. v. 27.03.2015 - I-11 U 44/14). Ein Fahrzeugführer hat jedenfalls nach dem Rücksichtnahmegebot darauf zu achten, ob vor ihm ein anderer Fahrzeugführer den Fahrstreifen wechselt und ggf. durch eine Reaktion eine Kollision mit dem Fahrstreifenwechsler zu vermeiden. Wird gegen dieses Rücksichtnahmegebot verstoßen, obwohl die Kollision vermeidbar gewesen ist, trifft ihn eine Mithaftung, welche mit mindestens 30% zu bemessen ist (OLG Hamm, Urt. v. 30.10.2012 - I-9 U 5/12 - RuS 2013, 147).
Diese Grundsätze greifen konsequent auch ein, wenn es um ein Ausschwenken eines abbiegenden Lkws geht, welches gut erkennbar gewesen ist und ohnehin nicht zu einem vollständigen Fahrstreifenwechsel führt. Dass hier vorliegend angesichts der massiv erhöhten Betriebsgefahr des abbiegenden Lkws die Mithaftung wegen des Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO bei lediglich 25% angesetzt ist, ist nur konsequent und überzeugt.



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