Die erforderliche Qualität der Wahrnehmungsmöglichkeiten von einer offenkundigen Vorbenutzung („Servicemodul“)Leitsatz 1a. In einem Vorrichtungsanspruch enthaltene Zweck-, Wirkungs- oder Funktionsangaben bestimmen und begrenzen den geschützten Gegenstand nur insoweit, als das Vorrichtungselement, auf das sie sich beziehen, räumlich-körperlich so ausgebildet sein muss, dass es die betreffende Funktion erfüllen kann (Bestätigung von BGH, Urt. v. 07.06.2006 - X ZR 105/04 Rn. 15 - „Luftabscheider für Milchsammelanlage“ - GRUR 2006, 923). 1b. Weist eine Vorrichtung die erforderliche Eignung auf, ist unerheblich, ob die patentgemäßen Eigenschaften und Wirkungen regelmäßig, nur in Ausnahmefällen oder nur zufällig erreicht werden und ob es der Benutzer darauf absieht, diese Wirkungen zu erzielen (Bestätigung von BGH, Urt. v. 13.12.2005 - X ZR 14/02 Rn. 21 „Rangierkatze“ - GRUR 2006, 399). 2a. Eine Vorbenutzung offenbart den Gegenstand eines Patents schon dann, wenn die nicht nur theoretische und nicht nur entfernt liegende Möglichkeit eröffnet ist, dass beliebige Dritte und damit auch Fachkundige zuverlässige und ausreichende Kenntnis von der Erfindung erlangen (Bestätigung von BGH, Urt. v. 09.12.2014 - X ZR 6/13 Rn. 39 „Presszange“ - GRUR 2015, 463; BGH, Urt. v. 21.04.2020 - X ZR 75/18 Rn. 28 - Konditionierverfahren - GRUR 2020, 833). 2b. Die Eignung einer vor dem Prioritätstag benutzten Vorrichtung zur Erfüllung einer bestimmten Funktion ist der Öffentlichkeit nur dann zugänglich, wenn die Art und Weise ihrer Zugänglichkeit es erlaubt, die wahrnehmbaren Informationen so präzise und verlässlich aufzunehmen, dass eine darauf beruhende Nachbildung die Funktion objektiv verwirklichen würde. - A.
Problemstellung Die Entscheidung betrifft allgemein die neuheitsschädliche Vorwegnahme eines Erfindungsgegenstands durch offenkundige Vorbenutzung. Die spezifischen Probleme des Falls sind im Gegenstand der streitpatentgemäßen Lehre und der Vorrichtung begründet, in der sich die technische Lehre des Streitpatents neuheitsschädlich manifestiert haben soll: Bei dem streitpatentgemäßen Servicemodul handelt es sich – und das Gleiche gilt für die Vorbenutzung – nämlich nicht etwa um einen handlichen Gegenstand, der leicht beschafft und notfalls zerlegt und untersucht werden kann, um die Erfindung, die sich an ihm oder in ihm manifestiert, ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Es ging vielmehr um eine kranähnliche Vorrichtung, die für den Einsatz in einem speziellen Verfahren zur Herstellung von Aluminium durch Schmelzflusselektrolyse (Hall-Héroult-Verfahren) in großen Werkhallen vorgesehen ist. Der Kern der Erfindung betrifft die Anordnung der Werkzeuge des Moduls im räumlichen Verhältnis zum Führerstand. Für die Offenkundigkeit der Vorbenutzung kam es sachlich darauf an, ob gerade die bestimmte Anordnung, in der sich die Lehre des Streitpatents manifestierte, bei dem vorbenutzten Kran hinreichend offenbart worden war. Die spezifischen Probleme der Beweisführung wiederum waren darin begründet, dass es für die neuheitsschädliche Offenbarung dieser Anordnung nicht auf eine von der Klägerin zur Veranschaulichung vorgelegte und bearbeitete Konstruktionszeichnung ankam, sondern auf Wahrnehmungen vom Betrieb der Kräne. Dafür standen der beweisbelasteten Partei nur die Wahrnehmungen eines Zeugen und ein Video über einen solchen Kran zur Verfügung.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die streitpatentgemäßen Module dienen dem Austausch abgenutzter Anoden von Elektrolysezellen bei, wie erwähnt, der Herstellung von Aluminium. Die Module bestehen aus einem an einem Wagen zu befestigenden, fahrbaren Gestell mit einem Turm. An diesem Turm wiederum sind ein Führerstand und ein Werkzeugsatz aus zumindest vier Werkzeugen angeordnet: ein Stechwerkzeug, eine Becherschaufel und ein erster Anodengreifer (jeweils an einem Teleskoparm angebracht) sowie ein mit einer einziehbaren Leitung versehener Trichter. Das erfinderisch wesentliche Element ist die Anordnung dieser Werkzeuge im Verhältnis zum Führerstand nach Maßgabe der Merkmalsgruppe 5 des Streitpatents (BGH-Urteil Rn. 11). Wie häufig kam es zunächst darauf an, durch Auslegung zu ermitteln, welchen genauen Gehalt die Vorgaben dieser Merkmalsgruppe haben. Danach waren das Stechwerkzeug und die einziehbare Leitung räumlich einerseits zwischen Führerstand auf der einen Seite und Becherschaufel sowie Anodengreifer auf der anderen anzuordnen, andererseits durften sie aber auch in der Breite nicht über den von Becherschaufel sowie Anodengreifer definierten Bereich hinausragen (Rn. 20 ff., insbes. Rn. 24 ff.). Bei einem bestimmten Kran (Sunndale-Kran) waren diese Vorgaben in einer bestimmten Relativposition objektiv erfüllt (Rn. 58-63). Der Erfolg der Nichtigkeitsklage hing im Berufungsverfahren aber davon ab, ob diese eine maßgebliche Relativposition unter vielen bei Rotation des Führerstandes um die Werkzeuge möglichen Positionen für den Fachmann in einer die Annahme der Neuheitsschädlichkeit erlaubenden Weise offenbart worden war. Diese der Merkmalsgruppe 5 des Streitpatents und namentlich Merkmal 5.3 entsprechende Anordnung der Arbeitswerkzeuge ergab sich zwar aus der erwähnten Konstruktionszeichnung (Rn. 57). Bei ihrer Bewertung lässt der BGH es entsprechend den bei Zweck-, Wirkungs- und Funktionsangaben in Vorrichtungsansprüchen geltenden Grundsätzen sogar genügen, dass die Vorrichtung die erforderliche Eignung objektiv aufwies, unabhängig davon, ob die patentgemäßen Eigenschaften und Wirkungen regelmäßig, nur in Ausnahmefällen oder nur zufällig erreicht werden und ob es der Benutzer darauf absieht, diese Wirkungen zu erzielen. Im Streitfall war deshalb ausreichend, dass der Sunndale-Kran eine Merkmal 5.3. entsprechende Position ohne Änderung seiner Steuerung oder sonstige Umbaumaßnahmen einnehmen kann (Rn. 61 f.). Auf diese Zusammenhänge beziehen sich die Leitsätze zu Art. 69 EPÜ/§ 14 PatG. Für die Offenkundigkeit der Vorbenutzung kam es indes nicht auf diese Konstruktionszeichnung an, sondern vielmehr darauf, ob die Öffentlichkeit diese bestimmte Positionierung in einer Weise im Betrieb des Kranes oder durch sonstige Anschauungsmöglichkeiten in einer Intensität hatte beobachten können, die für eine neuheitsschädliche Offenbarung als ausreichend anzuerkennen war. Welche Anforderungen der BGH in diesem Zusammenhang an die Qualität der Offenbarung stellt, ist in dem Leitsatz 1 b) zu Art 54 Abs. 2 EPÜ/§ 3 Abs. 1 PatG ausgesprochen. Dieser Leitsatz bildet den Kern der Entscheidung. Er ist nicht unbedingt eingängig formuliert, was daran liegt, dass er naturgemäß vom Gegenstand des Streitpatents abstrahiert. Auf dessen technische Lehre konkretisiert besagt der Leitsatz: Ist Gegenstand einer Vorbenutzung eine bestimmte Position von Arbeitswerkzeugen einer größeren Werkzeugeinheit zueinander relativ zu einem bestimmten Fixpunkt (Führerstand), muss die entsprechende Anordnung so präzise und verlässlich wahrgenommen werden können, dass eine auf dieser Wahrnehmung beruhende Nachbildung die Funktion objektiv verwirklichen würde. Oder sinngemäß entsprechend Rn. 67 des Urteils: Es reicht nicht aus, dass der vorbenutzte Gegenstand überhaupt besichtigt werden konnte. Vielmehr müssen die Umstände eine Wahrnehmung in einem Maße und einer Intensität zugelassen haben, dass fachkundige Beobachter diese Wahrnehmungen auch für eine darauf beruhende Nachbildung des Gegenstands (hier: der Merkmalsgruppe 5) hätten memorieren können. Diese Tatfrage verneint der BGH im Streitfall mit knappen Worten. Die Knappheit erklärt sich ihrerseits daraus, dass er die Beweise selbst nicht erhoben hat, sondern das BPatG (vgl. sein Urteil 3 Ni 20/19 (EP), S. 19 ff.), und dass gegen dessen Beweiserhebung und -würdigung ersichtlich keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken aufgekommen waren.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Entscheidung fügt sich nahtlos ein in die Rechtsprechung des BGH zur offenkundigen Vorbenutzung (vgl. Leitsatz 2 a) zu Art. 54 Abs. 2 EPÜ/§ 3 Abs. 1 PatG, Rn. 66 des Urteils). Sie ergänzt diese um das wesentliche Mosaik, welche Anforderungen an die Qualität der Offenbarung zu stellen sind.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Der Neuheitsangriff durch Geltendmachung einer offenkundigen Vorbenutzung ist für den Angreifer naturgemäß häufig ein Unterfangen mit erheblichem Verlustrisiko. Die maßgeblichen Vorgänge liegen meistens schon lange Jahre zurück. Im Streitfall lagen zwischen Prioritätstag und Beweisaufnahme rund 18 Jahre. Die jetzt leitsatzmäßig festgelegte Anforderung an die Qualität der Wahrnehmung kann trotzdem zwar durchaus zu erfüllen sein. Ein Beispiel für einen insoweit erfolgreichen Neuheitsangriff findet sich etwa in BGH, Urt. v. 08.11.2016 - X ZR 116/14. Wie der vorliegende Fall zeigt, hängt vieles aber vom konkreten Gegenstand der jeweiligen Erfindung ab. Die für Merkmal 5.3 maßgebliche Position der Werkzeuge des Sunndale-Krans relativ zur Stellung des Führerstands war eine von mehreren möglichen, weil der Führerstand außen um die Werkzeuge um 360 Grad rotieren konnte. Der Ausschnitt dieser einen maßgeblichen Relativposition als technische Lösung hätte wahrnehm- und für ein Nachvollziehen memorierbar offenbart sein müssen.
|