juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 1. Zivilsenat, Urteil vom 29.05.2024 - I ZR 43/23
Autor:Prof. Dr. Karl-Nikolaus Peifer, Universitätsprofessor, RiOLG
Erscheinungsdatum:18.07.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 9 UWG 2004, § 5a UWG 2004, § 5b UWG 2004, § 3a UWG 2004, § 43 MessEG, § 5 UWG 2004, § 17a EichG, EGRL 29/2005
Fundstelle:jurisPR-WettbR 7/2024 Anm. 1
Herausgeber:Jörn Feddersen, RiBGH
Zitiervorschlag:Peifer, jurisPR-WettbR 7/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

„Mogelpackungen“ sind am Maßstab der Irreführung, nicht an dem von Marktverhaltensnormen zu beurteilen („Hydra Energy“)



Leitsätze

1. Die Vorschrift des § 43 Abs. 2 MessEG, die dem Schutz des Verkehrs vor Fehlannahmen über die relative Füllmenge einer Fertigpackung (“Mogelpackung“) dient, fällt, soweit Handlungen von Unternehmen gegenüber Verbrauchern betroffen sind, in den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 der in diesem Verhältnis eine Vollharmonisierung bewirkenden Richtlinie 2005/29/EG. Damit ist, weil insoweit die in den übrigen Absätzen des Art. 3 der Richtlinie 2005/29/EG vorgesehenen Ausnahmen nicht betroffen sind, für die lauterkeitsrechtliche Anwendung der Vorschrift des § 43 Abs. 2 MessEG als Marktverhaltensregelung i.S.d. § 3a UWG kein Raum, soweit sie Tatbestandsmerkmale - hier: das Merkmal der Bereitstellung auf dem Markt - vorsieht, die dem Tatbestand des Art. 6 der Richtlinie 2005/29/EG beziehungsweise des diese Vorschrift umsetzenden § 5 UWG fremd sind. Die Beurteilung der Irreführung über die relative Füllmenge einer Fertigpackung hat dann allein nach § 5 UWG zu erfolgen (Klarstellung zu BGH, Urt. v. 11.10.2017 - I ZR 78/16 Rn. 41 „Tiegelgröße“ - GRUR 2018, 431 - WRP 2018, 413).
2. Eine wettbewerblich relevante Irreführung über die relative Füllmenge einer Fertigpackung (“Mogelpackung“) nach § 5 UWG liegt unabhängig von dem konkret beanstandeten Werbemedium - hier: Online-Werbung - vor, wenn die Verpackung eines Produkts nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der darin enthaltenen Füllmenge steht. Dies ist in der Regel der Fall, wenn die Fertigpackung nur zu zwei Dritteln gefüllt ist, sofern nicht die Aufmachung der Verpackung das Vortäuschen einer größeren Füllmenge zuverlässig verhindert oder die gegebene Füllmenge auf technischen Erfordernissen beruht.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung drängt den Anwendungsbereich der Marktverhaltensnormen, die über § 3a UWG zur Beurteilung von geschäftlichen Handlungen im deutschen Recht eine besondere Rolle spielen, in Fällen zurück, in denen es um irreführende Handlungen geht. Dies ist eine notwendige Folge der Entscheidung „Knusper-Müsli II“ (BGH, Urt. v. 07.04.2022 - I ZR 143/19 - BGHZ 233, 193). Die dort zu § 5a UWG (irreführende Unterlassungen) vorgenommene Weichenstellung wird nunmehr auf § 5 UWG (irreführende Angaben) ausgedehnt. Der Bereich der Irreführung wird damit bei verbraucherbezogenen Ansprachen richtigerweise den vollharmonisierenden Bestimmungen der Art. 6 und 7 der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken unterstellt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Ein Kosmetikhersteller bot ein Herren-Waschgel auf seiner Internetseite in einer weichen Verpackung an, die um ca. 1/3 größer war als es die Füllmenge erforderlich gemacht hätte. Äußerlich war dies nicht erkennbar, weil dort, wo der Füllstand endete, die im Übrigen sichtdurchlässige Verpackung in einen durch einen silbernen Streifen undurchsichtigen Bereich überging, so dass die Leerfläche des Füllstandes insbesondere bei einer Online-Werbung nicht auffallen konnte. Es ging mithin um eine Konstellation, die das deutsche UWG seit langem am Verbot von „Mogelpackungen“ misst (BGH, Urt. v. 30.10.1981 - I ZR 156/79 „Kippdeckeldose“ - GRUR 1982, 118; Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl. 2024, § 5 Rn. 2.238). Spezialgesetzlich ist die Fallgestaltung allerdings auch in § 43 des Mess- und Eichgesetzes (MessEG) adressiert. Der dortige Absatz 2 verbietet es, Fertigverpackungen anzubieten, die „ihrer Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge vortäuschen als in ihnen enthalten ist“. Die Düsseldorfer Gerichte hatten diese Vorschrift als Marktverhaltensregelung i.S.v. § 3a UWG angewendet, allerdings die nach der UWG-Norm dann erforderliche Spürbarkeit der Verletzung marktlicher Interessen verneint (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.03.2023 - I-20 U 176/21, 20 U 176/21 - GRUR-RR 2024, 29). Einen Verstoß gegen § 5 UWG sahen die Gerichte nicht verwirklicht, weil man noch nicht unterstellen könne, dass die Vermeidung unnötiger Abfallmengen für den Verbraucher bei Waren des täglichen Bedarfs bereits hinreichend ausgeprägt sei. Auch umweltbewusste Menschen würden sich nicht stets umweltgerecht verhalten (OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.03.2023 - I-20 U 176/21, 20 U 176/21 Rn. 25 - GRUR-RR 2024, 29). Der BGH empfand beide Begründungen als nicht überzeugend, die erste, weil § 43 Abs. 2 MessEG unter den vollharmonisierten Irreführungstatbestand falle, also in der Verbraucheransprache letztlich nicht mehr über § 3a UWG, sondern nur noch über §§ 5, 5a UWG Relevanz erlangen könne. Zweitens seien die Maßstäbe für Fertigverpackungen des § 43 Abs. 2 MessEG für § 5 UWG zu übernehmen, daher müsse die Verpackung den Verbraucher über den relativen Füllstand einer Verpackung täuschen (BGH, Urt. v. 29.05.2024 - I ZR 43/23 Rn. 23 „Hydra Energy“). Diese Täuschung werde auch nicht hinreichend korrigiert.


C.
Kontext der Entscheidung
§ 3a UWG eröffnet konstruktiv erhebliche Möglichkeiten für Mitgliedstaaten, sich der vollharmonisierenden Wirkung von EU-Richtlinien zu entziehen, zudem über das Instrument der Marktverhaltensnormen einen Bestand an Normen zu schaffen, die faktisch dem Auslegungszugriff des EuGH entzogen werden. Spätestens nach Einführung des Verbraucherschadensersatzes in § 9 Abs. 2 UWG erschwert dies auch die Durchsetzungseffektivität von Verbraucherschutznormen im Wege des „private enforcement“. Es liegt auf der Hand, dass dieser nationale Sonderweg die Absicht der EU-Gesetzgebung, einheitliche Regeln auf dem Binnenmarkt zu schaffen, konterkariert. Es war daher konsequent, dass der BGH bereits in der Entscheidung Knusper-Müsli II (BGH, Urt. v. 07.04.2022 - I ZR 143/19 - BGHZ 233, 193) diese Entwicklung des deutschen Rechts beendet hat, indem das Gericht klargestellt hat, dass Marktverhaltensnormen im Bereich von Informationspflichten gegenüber Verbrauchern nur nach §§ 5a, 5b UWG, nicht aber nach § 3a UWG zu beurteilen sind. Das muss natürlich auch für das Verbot irreführender Angaben gelten, unter die potentiell täuschende Verpackungsgrößen („Mogelpackungen“) fallen. Diese Konsequenz hat das Gericht nun gezogen (insoweit die Ansicht aus BGH, Urt. v. 11.10.2017 - I ZR 78/16 Rn. 41 „Tiegelgröße“ - GRUR 2018, 431). Marktverhaltensnormen, die spezielle Irreführungsverbote oder Informationsgebote enthalten, können in der Verbraucheransprache die Auslegungsmaßstäbe der §§ 5, 5a, 5b UWG beeinflussen, aber diese Normen nicht ersetzen oder gar verdrängen. Die wichtigsten Konsequenzen dieser Ausrichtung sind, dass das Spürbarkeitsmerkmal des § 3a UWG keine Bedeutung mehr für diese Fälle hat und der Verbraucherschadensersatzanspruch eröffnet wird. Kompensiert wird dies dadurch, dass auch irreführende Angaben oder Unterlassungen nur zu Verboten führen, wenn sie die informierte Entscheidung der Verbraucher beeinflussen, indem sie zu konkreten Marktentscheidungen führen können, die ohne irreführende Praktik nicht getroffen worden wären.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis ändert sich nicht viel. Der BGH hat die Auslegungsmaßstäbe, die für § 43 Abs. 2 MessEG gelten, als auch für § 5 UWG maßgeblich befunden. Eine Mogelpackung ist nach wie vor dadurch gekennzeichnet, dass die Verpackungsgröße nur zu 70% oder weniger gefüllt ist (BGH, Urt. v. 29.05.2024 - I ZR 43/23 Rn. 26 f. „Hydra Engergy“, dort unter Hinweis auf § 17a Eichgesetz 1972/1978). Die „Mogelwirkung“ ergibt sich nicht daraus, dass die angegebene Füllmenge inkorrekt ist, sondern daraus, dass der Verbraucher annimmt, die Verpackung sei deutlich besser gefüllt als sie es ist, eine Waschgelverpackung also nicht ein knappes Drittel größer sein darf als es der Füllstand erforderlich machen würde. Ausnahmen gelten nach wie vor für Verpackungen, bei denen der Verbraucher an übergroße Behältnisse gewöhnt ist, wie bei Parfum und Pralinen (BGH, Urt. v. 11.10.2017 - I ZR 78/16 Rn. 43, 47 „Tiegelgröße“ - GRUR 2018, 431). Für Unternehmen verbleibt im Übrigen die Möglichkeit, die irreführende Größe richtigzustellen. Hätte der Anbieter eine durchsichtige Verpackung gewählt, so wäre die geringere Füllmenge aufgefallen. Wählt der Anbieter deutliche richtigstellende Hinweise (unrealistisch, aber wirksam: „Achtung: nur zu 2/3 gefüllt!“), die auch der flüchtige Durchschnittsverbraucher, auf den es bei solchen Alltagsprodukten ankommen soll, erkennt, so wird die Irreführung richtiggestellt.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Etwas nervös macht der Umstand, dass der BGH die Kriterien des deutschen Rechts und der deutschen Rechtsprechung zur Beurteilung von Mogelverpackungen hier herangezogen hat, ohne die Rechtsprechung des EuGH zu zitieren oder gar eine Vorlage in Betracht zu ziehen. Damit nimmt das Gericht dem EuGH die Möglichkeit, über die Maßstäbe der rein nationalen Betrachtung zu urteilen und einer Harmonisierung auch diesbezüglich Vorschub zu leisten. Der österreichische OGH hat eine Minderbefüllung von 40-50% bei verpackten Kuchenstücken als irreführend angesehen (v. 29.01.2019 - 4 Ob 150/18i), der BGH lässt 30% genügen. Es mag sein, dass der EuGH die Festlegung einer konkreten Befüllungsquote den nationalen Gerichten überantwortet. Die Gelegenheit, das zu judizieren, gab es bisher aber noch nicht.



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