juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BAG 1. Senat, Urteil vom 19.09.2023 - 1 AZR 281/22
Autoren:Dr. Alexander Bissels, RA und FA für Arbeitsrecht,
Benjamin Münnich, RA
Erscheinungsdatum:03.04.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 77 BetrVG, § 613a BGB
Fundstelle:jurisPR-ArbR 13/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Bissels/Münnich, jurisPR-ArbR 13/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Nachwirkung infolge eines Betriebsübergangs in das Arbeitsverhältnis transformierter Kollektivnormen



Leitsatz

Werden die Inhaltsnormen einer Betriebsvereinbarung im Fall eines nicht identitätswahrenden Betriebsübergangs in die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer transformiert, bleibt der kollektive Charakter der Regelungen einschließlich einer vereinbarten Nachwirkung erhalten. Die Bestimmungen können deshalb kollektivrechtlich in gleicher Weise abgeändert werden wie die ursprünglich normativ geltenden Regelungen.



A.
Problemstellung
Das BAG hatte in dem nachfolgend besprochenen Urteil gleich über mehrere für die Praxis bedeutsame Aspekte zur Fortgeltung von Kollektivnormen im Rahmen eines Betriebsübergangs zu entscheiden. Insbesondere beschäftigte sich der Erste Senat mit der Frage, ob eine Gesamtbetriebsvereinbarung auch dann entsprechend § 77 Abs. 6 BetrVG nachwirkt, wenn sie infolge eines nicht identitätswahrenden Betriebsübergangs „nur“ gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkt. Im Ergebnis hat das BAG dies bejaht.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Gegenstand der Entscheidung war ein Rechtstreit über die Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger Beihilfen im Krankheitsfall (Zuschüsse zu Krankheitskosten) zu gewähren.
Der Kläger war seit dem 01.01.1986 beim Rechtsvorgänger der Beklagten, dem Rheinisch-Westfälischen Technischen Überwachungs-Verein e.V. (RW TÜV), angestellt. Durch einen Betriebsübergang ging sein Arbeitsverhältnis auf die jetzige Beklagte über. Beim RW TÜV war seit dem 01.01.1979 eine Gesamtbetriebsvereinbarung in Kraft, die „Vereinsordnung“ vom 15.12.1978 (nachfolgend „Gesamtbetriebsvereinbarung“). Diese sah u.a. in deren Teil IV die Gewährung von Beihilfezahlungen im Krankheitsfall vor. Die Leistungen wurden vom RW TÜV und später von der Beklagten über den Anwendungsbereich der Gesamtbetriebsvereinbarung hinaus auch an ausgeschiedene Arbeitnehmer, insbesondere Betriebsrentner, gezahlt. Nachdem der Kläger Ende September 2017 aus dem Unternehmen der Beklagten ausgeschieden war und Betriebsrente bezogen hatte, setzte die Beklagte die Beihilfezahlungen an ihn zunächst fort. Am 21.03.2022 kündigte die Beklagte die Regelungen in Teil IV der Gesamtbetriebsvereinbarung gegenüber dem Gesamtbetriebsrat und den örtlichen Betriebsräten zum 30.07.2022 und verweigerte weitere Zahlungen gegenüber dem Kläger.
Die Instanzgerichte gaben der Klage statt und verpflichteten die Beklagte zur Zahlung der Beihilfeleistungen; die Revision der Beklagten war nicht erfolgreich.
Der Kläger habe, so das BAG, gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung von Beihilfen nach Maßgabe des Teil IV der Gesamtbetriebsvereinbarung. Die Anwendung der Gesamtbetriebsvereinbarung auf Betriebsrentner resultiere dabei aus einer betrieblichen Übung. Die betriebliche Übung habe – verkürzt dargestellt – darin bestanden, die Gesamtbetriebsvereinbarung über ihren Anwendungsbereich hinaus auch auf Betriebsrentner anzuwenden. Der geltend gemachte Anspruch auf Beihilfezahlung hätte somit nur vorgelegen, wenn die Gesamtbetriebsvereinbarung trotz des Betriebsübergangs und trotz der Teilkündigung fortgegolten hätte. Auch das bejahte das BAG. Durch die Teilkündigung der Gesamtbetriebsvereinbarung sei der Anspruch auf die Gewährung der Beihilfezahlungen nicht entfallen, weil die maßgeblichen Regelungen nachwirkten – und zwar auch, wenn sie „nur“ nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in die übergegangenen Arbeitsverhältnisse transformiert worden seien. Bei einem nicht identitätswahrenden Betriebsübergang würden die Inhaltsnormen der Gesamtbetriebsvereinbarung im Zeitpunkt des Betriebsübergangs nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in die übergegangenen Arbeitsverhältnisse „transformiert“. Diese Transformation erfolge dergestalt, dass die kollektivrechtlichen Merkmale der Normen erhalten blieben. Sie könnten folglich mit kollektivrechtlichen Mitteln – etwa durch eine Kündigung – so geändert werden, als ob sie im neuen Betrieb als Betriebsvereinbarung normativ fortbestünden. Zur Gewährleistung des Schutzes der kollektivrechtlichen Regelungen und der Verhinderung der Verschlechterung der Rechtsposition der Arbeitnehmer, wirkten die transformierten Normen zudem entsprechend § 77 Abs. 6 BetrVG nach.


C.
Kontext der Entscheidung
Das BAG führt seine Rechtsprechung zur Geltung von Kollektivnormen im komplexen Zusammenspiel von § 613a Abs. 1 Sätze 2, 3 BGB weiter. Bereits im Urteil vom 19.11.2019 (1 AZR 386/18) hatte sich der Erste Senat mit der Fortwirkung teilmitbestimmter Betriebsvereinbarungen befasst, die gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in das Arbeitsverhältnis transformiert werden. Das BAG entschied, dass eine Betriebsvereinbarung mit einem dieser „innewohnende(n) Vorbehalt ihrer Abänderbarkeit“ in das Arbeitsverhältnis transformiert würde. Damit sei der Betriebserwerber weiterhin – also wie der Betriebsveräußerer – berechtigt, jene zu kündigen. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, nach dem keine Transformation eintritt, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt würden, stehe dem nicht entgegen. Ob dann eine Nachwirkung eintrete, hänge nach allgemeinen Maßstäben davon ab, ob die jeweilige Regelung erzwingbar sei und deswegen nachwirke oder – wie im hiesigen Urteil – eine Nachwirkung vereinbart worden sei. Insbesondere an dem Punkt der Nachwirkung setzt das BAG daher im vorliegenden Urteil an.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung grenzt die – im Rahmen von Umstrukturierungen äußerst praxisrelevante – Bindungswirkung von Betriebsvereinbarungen im Zusammenhang mit Betriebsübergängen weiter ein. Das BAG stellt erneut klar, dass auch gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierte Regelungen ihren kollektivrechtlichen Charakter nicht verlieren und im Falle der Beendigung nach den allgemeinen betriebsverfassungsrechtlichen Grundsätzen gekündigt werden können. Eine „Ablösung“ einer Betriebsvereinbarung ist also nicht nur im Fall einer verdrängenden Kollektivnorm (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB) möglich. Das ist zumindest im Rahmen der freiwilligen Mitbestimmung, bei der grundsätzlich keine Nachwirkung eintritt, für den Betriebserwerber sehr hilfreich, um unliebsame Regelungen (z.B. über freiwillige Leistungen) zu beseitigen. Mitbestimmte Regelungen lassen sich dagegen aufgrund ihrer Nachwirkung nicht einfach abschaffen. Gleiches gilt, wenn die Nachwirkung einer freiwilligen oder nur teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung – wie im vorliegenden Fall – explizit vorgesehen worden ist; diese ist nach Auffassung des BAG regelmäßig dahin gehend auszulegen, dass im Falle einer Kündigung sämtliche Regelungen (und nicht nur die erzwingbaren Regelungsgegenstände) nachwirken sollen. Die gleichen Grundsätze gelten, wenn nur ein selbstständiger (freiwilliger oder teilmitbestimmter) Regelungskomplex der Betriebsvereinbarung gekündigt wird (Teilkündigung). Auch dann soll eine Vereinbarung der Nachwirkung dahin gehend auszulegen sein, dass auch die gekündigten, nicht erzwingbaren Regelungsgegenstände nachwirken sollen. Das ist im Rahmen der Vertragsgestaltung bei der Übernahme eines Betriebs dringend zu beachten.
Unentschieden bleibt in diesem Zusammenhang, ob die grundsätzlich mögliche Kündigung der transformierten Kollektivnormen erst nach Ablauf der einjährigen Veränderungssperre des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zulässig ist. Weder in der Entscheidung vom 19.11.2019 noch in dem hier besprochenen Urteil wurde diese Frage relevant, da die Kündigung erst mehr als ein Jahr nach dem Betriebsübergang ausgesprochen wurde. Die herrschende Auffassung hält die Kündigung der transformierten Kollektivnormen vor Ablauf der einjährigen Veränderungssperre für zulässig (vgl. Preis in: ErfKomm, § 613a BGB Rn. 121; Gussen in: BeckOK ArbR, § 613a BGB Rn. 250; Hohenstatt in: Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, Rn. E. 69). Dagegen spricht zwar der Wortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, der auf jegliche Änderung der Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis erstreckt werden kann. Überzeugender ist jedoch, dass die Transformation der kollektiven Normen nicht zu günstigeren Bedingungen als bei deren normativer Fortgeltung führen kann. Ziel der Regelung des § 613a BGB ist es, die geregelten Arbeitsbedingungen trotz des Betriebsübergangs zu erhalten (vgl. Preis in: ErfKomm, § 613a BGB Rn. 2). Dementsprechend bezweckt die Veränderungssperre des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB den Schutz des Arbeitnehmers vor dem Verlust des kollektivrechtlichen Gleichgewichts der Verhandlungsmacht von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie gilt richtigerweise nicht für eine Kündigung, die auch kollektivrechtlich möglich gewesen wäre.



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