juris PraxisReporte

Autor:Dr. Marius Welling, RA
Erscheinungsdatum:19.03.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1 VDuG, § 4 UKlaG, § 2 VDuG, § 8 VDuG, § 9 KapMuG, § 7 VDuG, § 9 VDuG, § 204a BGB, § 4 VDuG, § 14 VDuG, § 16 VDuG, § 17 VDuG, § 18 VDuG, § 19 VDuG, § 23 VDuG, § 27 VDuG, § 25 VDuG, § 28 VDuG, § 30 VDuG, § 21 VDuG, § 606 ZPO, § 41 VDuG, § 15 VDuG, § 11 VDuG, § 46 VDuG, § 8 KapMuG, EGRL 22/2009, EGRL 41/2003, EGRL 65/2009, EGV 1060/2009, EUV 1095/2010, EURL 65/2014, EGRL 92/2002, EURL 61/2011, EUV 2016/679, EURL 2020/1828
Fundstelle:jurisPR-BKR 3/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Stephan Meder, Universität Hannover
Dr. Anna-Maria Beesch, RA'in und FA'in für Bank- und Kapitalmarktrecht
Zitiervorschlag:Welling, jurisPR-BKR 3/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Die neue Verbandsklage nach VDuG - Gamechanger oder wenig Neues?

I. Einleitung

Am 13.10.2023 sind die neuen Regelungen zur Verbandsklage im „Gesetz zur gebündelten Durchsetzung von Verbraucherinteressen“ (VDuG) in Kraft getreten, mit denen neben der bisherigen Musterfeststellungsklage die Abhilfeklage eingeführt wurde, welche erstmals direkt auf Leistung gerichtet ist. Der deutsche Gesetzgeber setzte damit, wenn auch verspätet, die europäischen Vorgaben der Verbandsklagerichtlinie1 um. Aus den Reihen der Regierungskoalition wurde dieses neue Instrument des kollektiven Rechtsschutzes bereits früh als „Game-Changer für Verbraucherinnen und Verbraucher, Unternehmen und die Justiz“ proklamiert2.

Im nachfolgenden Beitrag sollen die Neuregelungen insbesondere aus bank- und kapitalmarktrechtlicher Sicht betrachtet werden. Dabei will der Autor auch erste praktische Erfahrungen aus der Zeit seit Einführung des VDuG einfließen lassen und der Frage nachgehen, ob die neuen Regelungen zur neuen Verbandsklage tatsächlich ein „Gamechanger“ sind.

II. Anwendungsbereich der Verbandsklage

Sachlich hat der deutsche Gesetzgeber den Anwendungsbereich über die europäischen Vorgaben hinaus auf „sämtliche bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ in § 1 Abs. 1 VDuG ausgedehnt.

Demgegenüber betont noch Art. 2 Abs. 1 der Verbandsklagerichtlinie, dass diese nur Anwendung findet „auf Verbandsklagen gegen Verstöße durch Unternehmer gegen die in Anhang I enthaltenen Vorschriften des Unionsrechts einschließlich ihrer Umsetzung in nationales Recht, welche die Kollektivinteressen der Verbraucher beeinträchtigen oder zu beinträchtigen drohen.“ Zwar hätte bereits diese Regelung die Anwendung auf zahlreiche bank- und kapitalmarktrechtliche Fälle eröffnet, da Anhang I eine Reihe einschlägiger Rechtsakte aufführt3. Durch die umfassende Ausdehnung auf „sämtliche bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ in § 1 Abs. 1 VDuG treten entsprechende Abgrenzungsfragen allerdings in den Hintergrund.

So finden die neuen Regelungen des VDuG beispielsweise Anwendung auf die Kündigung oder den Widerruf von Verträgen, auf eine etwaige Verwendung unzulässiger AGB oder auf Datenschutzverstöße, welche zunehmend zum Gegenstand von auch auf Schadensersatz nach Art. 82 DSGVO gerichteten Klageverfahren gemacht werden.

Dieser weite Anwendungsbereich entspricht dem bisherigen der Musterfeststellungsklage, der u.a. dazu führte, dass die überwiegende Zahl der bislang im Klageregister veröffentlichten Musterfeststellungsklagen gegen Finanzinstitute geführt wurde4, was die Bedeutung dieser kollektiven Rechtsbehelfe für das Bank- und Kapitalmarktrecht nochmals verdeutlicht.

Den persönlichen Anwendungsbereich der neuen Klagemodelle beschränkt § 1 Abs. 1 VDuG allerdings grundsätzlich auf Verbraucher.

Bestimmte kleine Unternehmen sind gemäß § 1 Abs. 2 VDuG insofern Verbrauchern gleichgestellt, nämlich wenn sie weniger als zehn Personen beschäftigen und ihr Jahresumsatz 2 Mio. Euro nicht übersteigt. Allerdings zeigen hier die bislang im Klageregister veröffentlichen drei Abhilfeklagen eine interessante Entwicklung: Denn während in zwei dieser drei Abhilfeklagen ausdrücklich diese kleinen Unternehmen als Anspruchsberechtigte im Klageantrag einbezogen sind5, wird in einer dritten der Versuch unternommen, diese kleinen Unternehmen i.S.d. § 1 Abs. 2 VDuG über den Klageantrag auszuschließen6. Eine solche Differenzierung wirkt umso erstaunlicher, als alle drei Abhilfeklage von Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) erhoben wurden. Ob sie so tatsächlich zu einem Ausschluss der kleinen Unternehmen von der Bindungswirkung des Urteils führt, muss allerdings fraglich erscheinen, da dies den offensichtlichen gesetzgeberischen Intentionen zuwiderlaufen würde7.

III. Klagebefugnis

Eine derartige Abhilfe- oder Musterfeststellungsklage erheben können – ähnlich wie Unterlassungsklagen nach dem UKlaG – nur sog. qualifizierte Verbraucherverbände gemäß § 2 Abs. 1 VDuG. Anders als beispielsweise nach dem KapMuG sind daher einzelne Verbraucher bzw. Anleger oder gar Fonds und Unternehmen der Finanzbranche selbst8 nicht klageberechtigt.

Da allerdings, anders als bislang gemäß § 606 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO a.F., der qualifizierte Verbraucherverband nicht mehr bereits vier Jahre in die Liste gemäß § 4 UKlaG eingetragen sein muss, erscheint es nun zumindest nicht mehr ausgeschlossen, dass sich sog. „ad-hoc“-Einrichtungen zur Erhebung von Verbandsklagen9 gründen können. Denn neben der Eintragung in die Liste gemäß § 4 UKlaG ist nun für die Klageberechtigung gemäß § 2 Abs. 1 VDuG nur noch erforderlich, dass diese qualifizierten Verbraucherverbände nicht mehr als 5 Prozent ihrer finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen beziehen.

Mit dem Wegfall der bisherigen übrigen Anforderungen in § 606 Abs. 1 Satz 2 ZPO a.F. wollte der Gesetzgeber den zentralen „Flaschenhals“ der bisherigen Musterfeststellungsklage beseitigen, der dazu führte, dass praktisch alle veröffentlichten Musterfeststellungsklagen bislang von öffentlich geförderten Verbraucherzentralen geführt wurden. Im Ergebnis blieb wohl insbesondere aus diesem Grund die Zahl der Musterfeststellungsklagen weit hinter den Erwartungen zurück. So hatte der Gesetzgeber bei Einführung im November 2018 noch 450 Klagen pro Jahr prognostiziert. Tatsächlich aber wurden in den fünf Jahren bis Oktober 2023 nur insgesamt 35 Musterfeststellungsklagen und damit nur ca. 2% der erwarteten Klagen im Klageregister veröffentlicht.

Ob dieses gesetzgeberische Ziel allein durch den weitgehenden Wegfall der Anforderungen des § 606 Abs. 1 Satz 2 ZPO a.F. erreicht werden kann, ist allerdings bereits knapp ein halbes Jahr nach Einführung der Verbandsklage durchaus kritisch zu hinterfragen. Denn nicht nur wurden in den fünf Monaten seither erst drei Verbandsklagen im Register bekannt gemacht, sondern diese drei Verbandsklagen wurden auch erneut sämtlich nur von öffentlich finanzierten Verbraucherzentralen, konkret dem vzbv, erhoben.

IV. Parteien der Verbandsklage

Parteien des Verbandsklageverfahrens sind somit einerseits der klagende Verbraucherverband, wobei gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 VDuG auch eine Klage durch mehrere Verbraucherverbände zulässig sein soll. Allerdings normiert § 8 VDuG die Sperrwirkung einer bereits erhobenen Verbandsklage. In der Praxis kann es daher zu einem sog. „Race to the Courtroom“ kommen, so dass vom Zufall bestimmt wird, wer das Klageverfahren verantwortlich führt. Insbesondere sieht der Gesetzgeber hier keine Auswahl des geeignetsten Musterklägers durch das Gericht, wie in § 9 Abs. 2 KapMuG, vor.

Auch mehrere Unternehmer können nun nach der Klarstellung in § 7 Abs. 1 Satz 2 VDuG gemeinschaftlich verklagt werden. Keine Partei des Verfahrens sind allerdings die Verbraucher, um deren Ansprüche es geht. Weder durch eine Anmeldung zum Klageregister noch durch eine Klage können sie beispielsweise den Status von Beigeladenen, wie im KapMuG, erlangen und so auch nicht die Möglichkeit erhalten, auf das Verfahren Einfluss zu nehmen. Dass sich insofern ernste Fragen nach dem Anspruch der Verbraucher auf rechtliches Gehör stellen, liegt auf der Hand10.

V. Anmeldung von Ansprüchen gemäß § 46 VDuG

Die Möglichkeit der Verbraucher, sich am Verbandsklageverfahren zu beteiligen, beschränkt sich auf die bloße Anmeldung ihrer Ansprüche zum Verbandsklageregister gemäß § 46 VDuG.

Mit diesem Erfordernis einer Anmeldung hat der Gesetzgeber am sog. Opt-in festgehalten. Anders als beispielsweise bei der US-amerikanischen Class Action entfaltet die Verbandsklage rechtliche Wirkung somit nur jenen Verbrauchern gegenüber, die sich aktiv für sie angemeldet haben. Dass ein Verbraucher ohne jegliches Zutun profitiert, normiert lediglich der neue § 204a Abs. 1 Nr. 2 BGB, nach dem die Verjährungshemmung einer Unterlassungsklage umfassend für alle betroffenen Verbraucher greift, ohne dass diese aktiv werden mussten.

Da die Verbandsklage das sog. rationale Desinteresse überwinden will, hat der Gesetzgeber die Anmeldung bewusst niederschwellig ausgestaltet. Sie ist daher kostenfrei und ohne Anwalt möglich und soll über online verfügbare Formulare erfolgen. Gemäß § 46 Abs. 3 VDuG werden die Angaben einer wirksamen Anmeldung ohne inhaltliche Prüfung in das Verbandsklageregister eingetragen.

Es steht zu erwarten, dass dieses unverändert von der Musterfeststellungsklage übernommene Vorgehen in der Praxis zu erheblichen Problemen für Verbraucher führen wird. Denn die bisherigen Verfahren nach der früheren Rechtslage haben gezeigt, dass regelmäßig zahlreiche Anmeldungen fehlerhaft und unwirksam sind. So sah beispielsweise das OLG Stuttgart in einer Musterfeststellungsklage gegen die Mercedes Benz Bank AG von ca. 600 Eintragungen nur etwa 140 Eintragungen als voraussichtlich wirksam an, also weniger als ein Viertel11. In Konsequenz bieten bereits u.a. Verbraucherzentralen Unterstützung bei der Abfassung der Anmeldung an12. Angesichts der gravierenden Konsequenzen einer unwirksamen Eintragung kann zumindest eine solche Unterstützung, oder besser noch eine anwaltliche Begleitung der Anmeldung, als durchaus ratsam erscheinen.

Denn nur eine wirksame Anmeldung bewirkt zum einen die Bindung an ein rechtskräftiges Urteil über die Verbandsklage gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 VDuG und zum anderen und vor allem führt nur sie zur Verjährungshemmung gemäß § 204a Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 BGB.

Möglich ist eine Anmeldung nun gemäß § 46 Abs. 1 VDuG bis zum Ablauf von drei Wochen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung. Diese Verlängerung des Anmeldezeitraums war einer der umstrittensten Punkte im Gesetzgebungsverfahren des VDuG und wurde so erst kurz vor der Verabschiedung in das Gesetz aufgenommen. Zweck dieser Verlängerung soll insbesondere sein, dass „durch die zeitlich nach hinten verlegte Möglichkeit des Opt-ins […] Verbraucher/-innen hierdurch ermöglicht werden [erg.: solle], auf einer soliden Informationsgrundlage über eine Anmeldung zum Verbandsklageregister zu entscheiden.“13. Ob dieses Ziel so überhaupt tatsächlich erreicht werden kann, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben14. Unbestreitbar führt diese Verlängerung allerdings dazu, dass ein gerichtlicher Vergleich sozusagen per Gesetz verunmöglicht wird. Denn gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 VDuG kann ein gerichtlicher Vergleich „nicht vor Ablauf des in § 46 Absatz 1 Satz 1 genannten Zeitpunkts geschlossen werden“. Dieser Zeitpunkt liegt nun aber eben drei Wochen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung. Allerdings dürfte ohnehin ein Vergleichsschluss vor Ablauf der Anmeldefrist höchst unwahrscheinlich erscheinen, da für das beklagte Unternehmen zu diesem Zeitpunkt die Zahl und die Höhe der angemeldeten Ansprüche und damit die Vergleichssumme praktisch unabsehbar wäre.

Befördert wird dies durch die Verjährungsregelungen gemäß § 204a Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 BGB, da diese faktisch zu einer quasi-rückwirkenden Hemmung führen. Denn maßgeblich für die Hemmungswirkung ist allein der Zeitpunkt der Erhebung der Verbandsklage, nicht aber der der Anmeldung des Anspruchs zum Verbandsklageregister. Gerade bei länger laufenden Verbandsklageverfahren kann dies dazu führen, dass Ansprüche, die individuell betrachtet eigentlich bereits verjährt wären, durch die Anmeldung von der Hemmungswirkung der Verbandsklage profitieren und somit doch noch mit der Hoffnung auf Erfolg geltend gemacht werden können.

VI. Verbraucherquorum und Klageschrift

Für die Zulässigkeit einer Verbandsklage muss der klagende Verband gemäß § 4 VDuG nur noch „nachvollziehbar“ darlegen, dass „mindestens 50 Verbraucher betroffen sein können“. Auch hier wurden also gegenüber den bisherigen Regelungen zur Musterfeststellungslage die Anforderungen erheblich reduziert. So ist nun weder eine Glaubhaftmachung mehr erforderlich noch, dass sich ein bestimmtes Quorum von Verbrauchern tatsächlich bereits angemeldet hat.

VII. Besonderheiten der Abhilfeklage

Die Abhilfeklage ist gemäß § 14 VDuG gerichtet auf die Verurteilung des Unternehmers zu einer Leistung an die angemeldeten Verbraucher. Maßgebliche Voraussetzung für ihre Zulässigkeit stellt gemäß § 15 Abs. 1 VDuG dar, dass die von der Klage betroffenen Ansprüche von Verbrauchern „im Wesentlichen gleichartig“ sind. Dies soll der Fall sein, „wenn die Ansprüche auf demselben Sachverhalt oder auf einer Reihe im Wesentlichen vergleichbarer Sachverhalte beruhen und für die Ansprüche die im Wesentlichen gleichen Tatsachen- und Rechtsfragen entscheidungserheblich sind“. Für die Auslegung dieses zentralen Erfordernisses muss vor Augen geführt werden, dass die Erweiterung auf eine Gleichartigkeit nur „im Wesentlichen“ ebenso erst am Ende des Gesetzgebungsverfahrens eingeführt wurde, während zuvor die Gleichartigkeit äußerst restriktiv verstanden worden war. Daher wird auch weiterhin ein zumindest hoher Grad an Vergleichbarkeit des Sachverhalts und der Tatsachen- und Rechtsfragen für die Zulässigkeit einer Abhilfeklage gefordert werden müssen.

Rechtsprechung zur Frage der „wesentlichen Gleichartigkeit“ ist bislang noch nicht ersichtlich. In den veröffentlichten Abhilfeklagen wird eine solche klägerseits angenommen beispielsweise für Kunden mit Fernwärmeverträgen eines Unternehmens. Ausscheiden dürfte die wesentliche Gleichartigkeit zumindest dann, wenn (auch) individuellen Sach- und Rechtsfragen, welche sich von Einzelfall zu Einzelfall unterscheiden, für die Entscheidung erhebliche Bedeutung zukommt.

Der weitere Verfahrensfortgang gestaltet sich derart, dass auf eine zulässige und begründete Abhilfeklage hin zunächst im ersten Schritt ein sog. Abhilfegrundurteil ergeht. Dieses enthält gemäß § 16 Abs. 2 VDuG insbesondere die konkreten Voraussetzungen, nach denen sich die Anspruchsberechtigung der betroffenen Verbraucher bestimmt, und die von jedem einzelnen Verbraucher im Umsetzungsverfahren zu erbringenden Berechtigungsnachweise. Die Urteilsformel enthält ferner den Betrag, der jedem berechtigten Verbraucher zusteht, oder die Methode zur Berechnung der den Verbrauchern jeweils zustehenden Einzelbeträge.

Als zweiten Schritt soll das Gericht nach dem Abhilfegrundurteil gemäß § 17 Abs. 1 VDuG die Parteien zu einem Vergleichsvorschlag bezüglich seiner Umsetzung auffordern. Dieser Vergleich zielt also nicht mehr auf eine Regelung der materiellen Fragen und damit auf die Vermeidung des Abhilfegrundurteils, sondern bezweckt lediglich die Vermeidung des (kosten-)aufwendigen Umsetzungsverfahrens.

Falls sich die Parteien nicht auf einen Vergleich einigen und das Abhilfegrundurteil rechtskräftig wird, ergeht als dritter Schritt schließlich ein Abhilfeendurteil, in dem gemäß § 18 Abs. 1 VDuG insbesondere das Umsetzungsverfahren angeordnet, das Unternehmen zur Zahlung dessen vorläufig festgesetzter Kosten sowie zur Zahlung des kollektiven Gesamtbetrags zuhänden des Sachwalters verurteilt wird. Die Höhe des kollektiven Gesamtbetrags kann das Gericht gemäß § 19 Abs. 1 VDuG unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung bestimmen.

Die Umsetzung als solche, wie eben die Auszahlungen an die einzelnen angemeldeten Verbraucher, erfolgt schließlich durch den gemäß § 23 VDuG vom Gericht bestimmten Sachwalter, dessen Aufgaben im Einzelnen in § 27 VDuG geregelt sind. Insbesondere errichtet er gemäß § 25 Abs. 1 VDuG einen Umsetzungsfonds aus den Zahlungen des Unternehmens, aus dem er berechtigte Ansprüche von Verbrauchern durch Zahlung erfüllt. Der betroffene Verbraucher und das Unternehmen können gemäß § 28 VDuG ein Widerspruchsverfahren durchführen gegen die Entscheidungen des Sachwalters, welcher gemäß § 30 VDuG zudem der Aufsicht des Gerichts unterliegt. Zu beachten bleibt, dass auch durch die Ausurteilung des kollektiven Gesamtbetrags keine Rechtssicherheit für das beklagte Unternehmen bezüglich seiner Höhe eintritt, da gemäß § 21 VDuG eine Erhöhung dieses kollektiven Gesamtbetrags während des Umsetzungsverfahrens beantragt werden kann, wenn die klageberechtigte Stelle Tatsachen vorträgt, aus denen sich ergibt, dass er nicht zur Erfüllung der berechtigten Zahlungsansprüche aller angemeldeten Verbraucher ausreicht.

VIII. Besonderheiten der Musterfeststellungsklage

Die bislang in den §§ 606 ff. ZPO a.F. geregelte Musterfeststellungsklage wurde auch in das VDuG übernommen und findet sich nun in § 41 VDuG. Wie bisher ist sie gerichtet auf „die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer“.

Dass trotz der direkt auf Leistung gerichteten Abhilfeklage weiterhin ein Bedürfnis auch für dieses Instrument des kollektiven Rechtsschutzes besteht, belegen schon die ersten seit Einführung des VDuG veröffentlichen Klagen, in denen teilweise eine Abhilfeklage mit einer Musterfeststellungsklage verbunden wird15. Vor allem dürfte die Musterfeststellungsklage dann weiterhin Anwendung finden, wenn es zwar an der gemäß § 15 VDuG für eine Abhilfeklage erforderlichen wesentlichen Gleichartigkeit fehlt, andererseits aber kollektivierbare Sach- und Rechtsfragen für eine Vielzahl von Verbrauchern im Streit stehen. In bank- und kapitalmarkrechtlichen Fällen kommt dies beispielsweise dann in Betracht, wenn individuelle Fragen des Einzelfalls wie zur Kausalität oder zur Kenntnis einer Gleichartigkeit entgegenstehen.

IX. Parallele Individualklagen

Anhängige Individualklagen, die die Ansprüche oder Rechtsverhältnisse oder Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Verbandsklage betreffen, werden gemäß § 11 Abs. 1 VDuG nur dann mit Blick auf das Verbandsklageverfahren ausgesetzt, wenn der klagende Verbraucher seinen Anspruch gemäß § 46 Abs. 1 VDuG zur Verbandsklage anmeldet. Nimmt er seine Anmeldung zurück, endet entsprechend auch die Aussetzung.

Anders als etwa im KapMuG, welches in § 8 KapMuG die zwingende Aussetzung der Individualverfahren von Amts wegen vorschreibt, wenn ihre Entscheidung vom Musterverfahren abhängt, hat es somit im VDuG der Verbraucher vollständig selbst in der Hand, ob und wie lange eine Aussetzung seiner parallelen Individualklage erfolgt, und ob eine Entscheidung im Verbandsklageverfahren für ihn Bindungswirkung entfaltet16. Für nach Einleitung des Verbandsklageverfahrens ist gar strittig, ob überhaupt eine Aussetzung auf dieses hin erfolgen kann17.

In der Praxis dürfte daher die vom Gesetzgeber auch angestrebte Entlastung der Gerichte fraglich erscheinen, insbesondere auch mit Blick auf den langen Anmeldezeitraum, der angesichts des damit verbundenen „rückwirkenden Wegfalls der Verjährung“ Anreize für jedenfalls rechtspolitisch hinterfragenswerte Gestaltungsversuche bieten dürfte18.

X. Abgrenzung zum KapMuG-Musterverfahren

Bisher war das KapMuG-Musterverfahren als lex specialis gegenüber der Musterfeststellungsklage anzusehen, woran sich auch durch die Regelung nun im VDuG nichts geändert hat. Bezüglich der neuen Abhilfeklage, welche die Vorgaben der Verbandsklagerichtlinie umsetzt, kann es allerdings aufgrund dessen zu einem Vorrang dieser neuen Form kommen19.

Künftig wird insofern hier die Neuregelung dieses Verhältnisses durch die geplante KapMuG-Reform zu beachten sein. Denn nach dem derzeitigen Referentenentwurf20 soll über § 148 Abs. 5 ZPO-E klargestellt werden, dass eine erhobene Verbandsklage ein Musterverfahren wegen desselben Lebenssachverhalts nicht ausschließt. Beide Verfahren sollen selbstständig nebeneinanderstehen. Der Kreis möglicher Initianten, die inhaltlichen Anwendungsbereiche sowie die möglichen Verfahrensziele sollen sich derart unterscheiden, dass ein Vorrang eines Verfahrens vor dem anderen sachlich nicht gerechtfertigt sei21.

XI. Ergebnis

Ist die neue Verbandsklage nun tatsächlich der proklamierte „Gamechanger“? Unzweifelhaft eröffnet die direkt auf Leistung gerichtete Abhilfeklage neue Möglichkeiten und erschließt faktisch insbesondere sog. Streuschäden, also mit eher geringeren individuellen Streitwerten, für den kollektiven Rechtschutz. Dies bestätigen die bereits im Verbandsklageregister veröffentlichten Klagen, welche Preiserhöhungen bei Stromlieferungs- und Fernwärmeverträgen angreifen und insofern somit individuelle Ansprüche zum Gegenstand haben, die (weit) unter der Grenze des sog. rationalen Desinteresses liegen22. Geradezu exemplarisch zeigt dies auch die erste eingereichte, bislang noch nicht im Verbandsklageregister erfasste Abhilfeklage, welche sich gegen eine Preiserhöhung um 5 Euro monatlich richtete, die aber Millionen von Verbrauchern zu tragen hatten23. Auch die Erleichterungen für klagende Verbände wie die erhebliche Ausweitung der Klageberechtigung, welche bislang den „Flaschenhals“ bildete, dürften die Zahl von Klagen nach dem VDuG steigen lassen, wobei gerade im Bereich des Bank- und Kapitalmarktrechts weiterhin ein Platz für die Musterfeststellungsklage verbleiben wird, welche bislang schon vor allem gegen Finanzinstitute gerichtet war und Raum für individuelle Besonderheiten lässt.

Beklagte Unternehmen werden sich auf eine Reihe von Besonderheiten und Neuerungen, wie die praktischen Schwierigkeiten hinsichtlich eines gerichtlichen Vergleichs, die sehr lange Anmeldefrist mit ihren Verjährungsimplikationen und intensive Diskussionen um den neuen Begriff der Gleichartigkeit einstellen sowie die Problematik weiterhin möglicher massenhafter Parallelklagen beachten müssen.

Gerade im Zusammenspiel mit der anstehenden KapMuG-Reform und weiteren diskutierten gesetzgeberischen Maßnahmen bleibt das „Game“ kollektiver Rechtsschutz somit auch weiterhin in Bewegung.


Fußnoten


1)

Richtlinie (EU) 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG, ABl Nr. L 409 v. 04.12.2020.

2)

Steffen in: Pressemitteilung der SPD-Fraktion „Einigung zum Verbandsklagerecht“, 29.06.2023, https://www.spdfraktion.de/presse/pressemitteilungen/einigung-verbandsklagerecht, abgerufen am 12.03.2024.

3)

So Nr. 23 „Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (ABl. L 302 vom 17.11.2009, S. 32)“, Nr. 36 „Richtlinie 2011/61/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2011 über die Verwalter alternativer Investmentfonds und zur Änderung der Richtlinien 2003/41/EG und 2009/65/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 1060/2009 und (EU) Nr. 1095/2010 (ABl. L 174 vom 1.7.2011, S. 1)“, oder Nr. 48 „Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU (ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 349)“.

4)

Beispielsweise wegen sog. Prämiensparverträge, dazu erst jüngst BayObLG, Urt. v. 28.02.2024 - 101 MK 1/20; weiter beispielsweise OLG Jena, 5 MK 1/23 (vzbv vs. Sparkasse Altenburger Land); OLG Brandenburg, 4 MK 1/22 (VZ Brandenburg vs. Sparkasse Spree-Neiße); OLG Dresden, 5 MK 1/22 (VZ Sachsen vs. Ostsächsische Sparkasse); OLG Brandenburg, 4 MK 2/21 (vzbv vs. Kreissparkasse Märkisch-Oderland); OLG Naumburg, 5 MK 2/21 (vzbv vs. Sparkasse Mansfeld Südharz); OLG Naumburg, 5 MK 1/21 (vzbv vs. Kreissparkasse Stendal); OLG Dresden, 5 MK 2/21 (VZ Sachsen vs. Sparkasse Mittelsachsen); OLG Dresden, 5 MK 1/21 (VZ Sachsen vs. Kreissparkasse Bautzen); OLG Brandenburg, 4 MK 1/21 (VZ Brandenburg vs. Sparkasse Barnim); BayObLG, 102 MK 1/21 (vzbv vs. Stadtsparkasse München); OLG Dresden, 5 MK 4/20 (VZ Sachsen vs. Sparkasse Muldental); OLG Dresden, Urt. v. 31.03.2021 - 5 MK 3/20 (VZ Sachsen vs. Sparkasse Meißen); vgl. auch BGH, Urt. v. 06.10.2021 - XI ZR 234/20; BGH, Urt. v. 24.11.2021 - XI ZR 310/20 und BGH, Urt. v. 24.11.2021 - XI ZR 461/20; näher dazu Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, 2024, S. 123 f.

5)

OLG Hamm, I-2 VKl 1/23, „E.ON“ („oder die im Sinne des § 1 Abs. 2 VDuG als Verbraucher:innen gelten“), und OLG Schleswig, 5 VKl 1/23, „Hansewerk Natur“ („oder die im Sinne des § 1 Abs. 2 VDuG als Verbraucher:innen gelten“).

6)

OLG Hamm, I-2 VKl 2/23 „ExtraEnergie GmbH“ („Die Beklagte wird verurteilt an (nicht namentlich benannte) Verbraucher, […] und die keine Verbraucher im Sinne des § 1 Abs. 2 VDuG sind“).

7)

Näher dazu Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, S. 73 ff.

8)

Vgl. dazu beispielsweise OLG Braunschweig v. 08.03.2017 - 3 Kap 1/16 „VW“; OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.10.2020 - 20 Kp 2/17; vgl. auch OLG Stuttgart, Beschl. v. 29.03.2023 - 20 Kap 2/17 Rn. 1.

9)

Dazu auch bereits Erwägungsgrund 28 der Verbandsklagerichtlinie.

10)

Dazu Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, S. 219 f., S. 231 ff.; S. 262 f. und S. 302 ff.

11)

OLG Stuttgart, Urt. v. 20.03.2019 - 6 MK 1/18; ausführlich zu dieser Problematik Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, S. 201 m.w.N.

12)

So beispielsweise die Verbraucherzentrale Sachsen, vgl. https://www.verbraucherzentrale-sachsen.de/geld-versicherungen/musterfeststellungsklage-eintragung-ins-klageregister-36332, abgerufen am 12.03.2024.

13)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses v. 05.07.2023, BT-Drs. 20/7631, S. 108.

14)

Eingehend dazu Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, S. 205 ff.

15)

Vgl. OLG Hamm, I-2 VKl 1/23 „E.ON“.

16)

Zu den Hintergründen, insbes. zum Anspruch auf rechtliches Gehör: Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, S. 258 ff., S. 303 ff.

17)

Näher dazu Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, S. 240.

18)

Näher dazu Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, S. 213 ff.

19)

Im Einzelnen dazu Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, S. 272 ff.

20)

Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrens v. 28.12.2023, https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/2023_KapMuG_ReformG.html?nn=110490, abgerufen am 12.03.2024.

21)

Referentenentwurf KapMuG, S. 28.

22)

Eingehend dazu Welling, Was kann die Verbandsklage vom KapMug lernen?, S. 20, 307 ff.


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