juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 6a. Zivilsenat, Urteil vom 27.11.2023 - VIa ZR 1062/22
Autor:Dr. Juan Carlos Dastis, StA, LL.M. (Cambridge)
Erscheinungsdatum:22.03.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 346 BGB, § 92 ZPO
Fundstelle:jurisPR-BGHZivilR 6/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Markus Würdinger, Universität Passau
Zitiervorschlag:Dastis, jurisPR-BGHZivilR 6/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Die Karlsruher Formel gehört auf den Prüfstand



Leitsatz

Zur Fassung eines Zahlungstitels im Falle des Abzugs von Nutzungsvorteilen in einem sog. Dieselfall.



A.
Problemstellung
Klagt ein Käufer auf Rückabwicklung eines Kfz-Kaufvertrags, stellt sich – nicht nur in sog. Dieselfällen – im Rahmen des § 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB die Frage nach der Berechnung des Nutzungsersatzes im Hinblick auf die vom Käufer mit dem Kfz gefahrenen Kilometer. Überwiegend wird dabei von Gerichten, die der Klage auf Rückabwicklung stattgeben, zur Berechnung auf den Kilometerstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt. Fährt der Käufer nach der mündlichen Verhandlung mit dem streitgegenständlichen Kfz nach Hause, ist der so berechnete Nutzungsersatzanspruch schon nicht mehr aktuell, und der Tenor steht mit der materiellen Rechtslage nicht mehr im Einklang. Zur Vermeidung dieses Problems hatte der 14. Zivilsenat des OLG Karlsruhe bereits im Jahr 2003 die sog. Karlsruher Formel entwickelt (OLG Karlsruhe, Urt. v. 07.03.2003 - 14 U 154/01 - NJW 2003, 1950, 1951, unter Verweis auf einen Vorschlag von Kaufmann, DAR 1990, 294). Statt des – materiell-rechtlich irrelevanten – Zeitpunkts der mündlichen Verhandlung wird im Tenor eine Formel aufgenommen, die den Kilometerstand im materiell-rechtlich entscheidenden Zeitpunkt der Rückgabe zugrunde legt. Die Karlsruher Formel wurde in der Folge von anderen Oberlandesgerichten bestätigt und verwendet (OLG Nürnberg, Urt. v. 21.03.2005 - 8 U 2366/04 Rn. 38; OLG Jena, Urt. v. 20.12.2007 - 1 U 535/06 Rn. 35; OLG München, Urt. v. 10.04.2013 - 20 U 4749/12). Sie war jedoch auch von Anfang an Kritik ausgesetzt (etwa KG, Urt. v. 18.12.2006 - 2 U 13/06 Rn. 22). Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet das OLG Karlsruhe (13. Zivilsenat, Urt. v. 31.03.2021 - 13 U 546/20) die Karlsruher Formel zu einem späteren Zeitpunkt ablehnte. Der Autor hat bereits im Jahr 2019 zusammen mit einer Kollegin für die Verwendung der Karlsruher Formel plädiert (Dastis/Hoeren, NJW 2019, 2430) und damit in der Praxis Gehör gefunden (etwa in zwei veröffentlichten Entscheidungen der 17. Zivilkammer des LG Bonn, LG Bonn, Urt. v. 10.10.2019 - 17 O 70/19, und LG Bonn, Urt. v. 12.11.2019 - 17 O 141/19).
Der VIa. Zivilsenat des BGH, der sog. „Diesel-Senat“, hat der Karlsruher Formel nun in einer Art obiter dictum eine Absage erteilt – ohne Auseinandersetzung mit den gegenteiligen Meinungen oder gar vertiefter Begründung.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die entscheidende Passage im Urteil des BGH lautet wie folgt:
„Sollte das Berufungsgericht einen deliktischen Anspruch bejahen, wird es – anders als der Kläger in seinem Antrag – in eine Entscheidungsformel nicht eine Berechnungsformel aufnehmen, sondern im wiedereröffneten Berufungsverfahren erlangte Vorteile beziffern und in Abzug bringen. Ein Zahlungstitel ist nur dann bestimmt genug und zur Zwangsvollstreckung geeignet, wenn er den Anspruch des Gläubigers ausweist und Inhalt und Umfang der Leistungspflicht bezeichnet. Der zu vollstreckende Zahlungsanspruch muss betragsmäßig festgelegt sein oder sich zumindest ohne weiteres aus dem Titel errechnen lassen (vgl. BGH, Urt. v. 24. Oktober 1956 - V ZR 127/55, BGHZ 22, 54, 57 f.; Beschl. v. 30. Juni 1983 - V ZB 20/82, BGHZ 88, 62, 65). Zwar genügt es für eine Bestimmbarkeit, wenn die Berechnung des Zahlungsanspruchs mit Hilfe offenkundiger, insbesondere aus dem Bundesgesetzblatt oder dem Grundbuch ersichtlicher Umstände möglich ist (BGH, Urt. v. 15. Dezember 1994 - IX ZR 255/93, NJW 1995, 1162; Beschl. v. 4. März 1993 - IX ZB 55/92, BGHZ 122, 16, 18). Es reicht indessen nicht, wenn in der Entscheidungsformel für die Berechnung der Zahlungshöhe auf Umstände – etwa die für die Berechnung des Abzugs von Nutzungsvorteilen ‚gefahrene[n] Kilometer‘ – Bezug genommen wird, die nicht Bestandteil des Titels sind und nur anhand einer Inaugenscheinnahme des Tachometers ermittelt werden können (vgl. BGH, Beschl. v. 11. September 2007 - XII ZB 177/04, NJW 2008, 153 Rn. 22).“


C.
Kontext der Entscheidung
Mit der unüberschaubaren Zahl von sog. Dieselfällen hat die Tenorierung eine enorme praktische Bedeutung erhalten, weil in den meisten Dieselfällen den Klagen der Käufer auf Rückabwicklung stattgegeben wird. Der klagende Käufer kann sich nicht damit begnügen, den (vollen) Kaufpreis zu verlangen, sondern muss zur Vermeidung von prozessualen Kostennachteilen (§ 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO) seine Zug um Zug zu erbringende Gegenleistung anbieten. Das bedeutet, dass der Kläger Übergabe und Rückübereignung des Kfz anbieten muss. Zur Erleichterung der Zwangsvollstreckung wird diesbezüglich ein Antrag auf Feststellung des Annahmeverzugs gestellt (näher Arz, JuS 2024, 130, 133 m.w.N.). Jedenfalls bei vorprozessualer Geltendmachung des Nutzungsersatzanspruchs (näher Rüfner in: BeckOGK, 01.01.2024, § 322 BGB Rn. 7) ist es sinnvoll, wenn sich der Antrag des Klägers auch zu den gezogenen Nutzungen verhält. Im zugrunde liegenden Fall hatte der Kläger in seinen Antrag die Karlsruher Formel aufgenommen.
Der BGH erteilt dem en passant eine Absage. In der Sache begnügt sich der BGH mit einem einzigen Argument, nämlich der fehlenden Bestimmbarkeit im Hinblick auf die Zwangsvollstreckung. Tatsächlich fehlt dem vollstreckenden Gerichtsvollzieher eine Information, über die er sich auch nicht aus öffentlich zugänglichen Quellen unterrichten kann: der aktuelle Kilometerstand. Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass diese Information dem Käufer und Vollstreckungsgläubiger vorliegt, der den Gerichtsvollzieher mit der Vollstreckung beauftragt. Mit Beauftragung muss der Vollstreckungsgläubiger den Kilometerstand mitteilen, notfalls müsste der Gerichtsvollzieher nachfragen. Falls er die Information nicht erhält, muss er die Vollstreckung unterlassen. Auch im Vollstreckungsverfahren gilt der Beibringungsgrundsatz (Ulrici in: BeckOK ZPO, 51. Ed. 01.12.2023, § 756 Rn. 3.1).
Insofern trägt auch der Verweis auf den BGH (Urt. v. 24.10.1956 - V ZR 127/55 - BGHZ 22, 54, 57 f.) nicht. In dieser Leitentscheidung hielt der BGH eine Klausel deshalb für unwirksam, weil die zur Vollstreckung erforderliche Information „nur den bayer. Notaren, aber nicht den Parteien, auch nicht den Gerichten oder dem Gerichtsvollzieher bekannt ist“ – ein wesentlicher Unterschied zur vorliegenden Konstellation, bei der der Kilometerstand dem Käufer und Vollstreckungsgläubiger bekannt ist, auf dessen Betreiben die Zwangsvollstreckung überhaupt erst erfolgt.
Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass der „Diesel-Senat“ die Tragweite seines obiter dictums zur Karlsruher Formel schlicht verkannt hat. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Karlsruher Formel, die doch jedenfalls aufgrund der entgegenstehenden obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. oben unter A.) geboten gewesen wäre, erfolgt nicht. Es bleibt zu hoffen, dass der „Diesel-Senat“ dies bei nächster Gelegenheit nachholt. Die Karlsruher Formel gehört auf den Prüfstand.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Hinsichtlich der Auswirkungen für die Praxis ist zwischen Käufer und Verkäufer zu unterscheiden. Die Perspektive des Verkäufers betont noch einmal die Vorteile der Karlsruher Formel. Man stelle sich vor, ein Käufer träte nach mündlicher Verhandlung und stattgebendem Urteil mit dem rückabzuwickelnden Fahrzeug eine Europareise an. In diesem Fall erhöhte sich der Nutzungsersatzanspruch, und die Rückzahlungssumme würde sich verringern. Ohne Karlsruher Formel kann der Verkäufer dem nur mit der Vollstreckungsabwehrklage begegnen.
Aus der Perspektive des Käufers ist zunächst bemerkenswert, dass es in der zugrunde liegenden Entscheidung der Käufer war, der die Titulierung nach der Karlsruher Formel beantragt hatte. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Karlsruher Formel einem angemessenen Interessenausgleich, der Rechtssicherheit und damit dem Rechtsfrieden dient. Auch der Käufer muss sich darüber im Klaren sein, dass die auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bezogene Tenorierung nicht der materiellen Rechtslage entspricht und der Verkäufer eine Erhöhung seines Nutzungsersatzanspruches geltend machen wird. Dem könnte der Käufer ohne Antrag mit Karlsruher Formel nur begegnen, wenn er das Fahrzeug im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung stilllegt. Ein Ergebnis, das wiederum weder im Interesse des Käufers noch des Verkäufers ist.
Klagenden Käufern ist daher zu raten, auch künftig eine Tenorierung mit der Karlsruher Formel zu beantragen. Sollte das Gericht die Karlsruher Formel ablehnen und konventionell tenorieren, dürfte es sich um einen Fall von § 92 Abs. 2 ZPO handeln und damit für den Kläger ohne Kostennachteil bleiben. Entsprechend sollte vorsorglich der Kilometerstand im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung festgehalten werden. Beklagte Verkäufer sollten der Karlsruher Formel nicht entgegentreten, da sie auch in ihrem Interesse ist.
Anmerkung der Redaktion:
Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Rechtsauffassung des Verfassers wieder.



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