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Anmerkung zu:BVerwG 5. Senat, Urteil vom 02.02.2023 - 5 C 8/21
Autor:Dr. Rainer Störmer, Vors. RiBVerwG
Erscheinungsdatum:25.09.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 45a SGB 8, § 45 SGB 8, § 125 VwGO, § 173 VwGO, § 556 ZPO, § 295 ZPO, § 138 VwGO, § 9 VwGO, § 130a VwGO, § 101 VwGO, Art 103 GG, § 108 VwGO, Art 101 GG
Fundstelle:jurisPR-BVerwG 19/2023 Anm. 1
Herausgeber:Verein der Bundesrichter bei dem Bundesverwaltungsgericht e.V.
Zitiervorschlag:Störmer, jurisPR-BVerwG 19/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Unzureichende Anhörung und ermessensfehlerhafte Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO



Leitsätze

1. Eine mündliche Anhörung kann nur dann den Anforderungen des § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO genügen, wenn sie vom Gericht aktenkundig gemacht und den Beteiligten zur Kenntnis gebracht worden ist.
2. Hat sich die Prozesssituation durch eine entscheidungserhebliche Änderung der Rechtslage wesentlich geändert, ist das Oberverwaltungsgericht verpflichtet, die Beteiligten erneut gemäß § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO anzuhören, wenn es daran festhalten will, im Beschlussverfahren nach § 130a Satz 1 VwGO zu entscheiden.
3. Hat das Oberverwaltungsgericht nach § 130a Satz 1 VwGO ermessensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden, verletzt dies nicht nur den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern kann auch gegen das Recht der Beteiligten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen und damit einen absoluten Revisionsgrund i.S.d. § 138 Nr. 1 VwGO begründen, wenn der Verfahrensverstoß zu einem Besetzungsfehler führt, weil Landesrecht für das Beschlussverfahren eine andere Besetzung des Gerichts vorsieht als für das Urteilsverfahren.



A.
Problemstellung
Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das OVG „über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.“ Die Vorschrift normiert eine Ausnahme von der grundsätzlich im Mittelpunkt des Berufungsverfahrens stehenden mündlichen Verhandlung und erlaubt es dem Berufungsgericht unter engen Voraussetzungen, auch gegen den Willen der Beteiligten im schriftlichen Verfahren zu entscheiden. In der zu erörternden Entscheidung des BVerwG stellten sich dazu vielfältige Fragen. Unter anderem hatte es zu folgenden Problemfeldern Stellung zu beziehen: Welche Anforderungen sind an die Ermessensentscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO zu stellen und was hat das Berufungsgericht zu beachten, um dem gesetzlichen Anhörungserfordernis (§ 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO) zu genügen? Unter welchen Voraussetzungen kann ein Rügeverlust für den Kläger eintreten und welche Rechtsfolgen sind an die Fehlerhaftigkeit einer Entscheidung nach § 130a VwGO geknüpft?


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Der Kläger hatte eine Klage auf Feststellung erhoben, dass die von ihm betriebene Hochschule, soweit sich dort Minderjährige aufhalten, nicht der im Kinder- und Jugendhilferecht normierten Erlaubnispflicht (§ 45 SGB VIII) unterliege. Diese Klage hatte das VG schon als unzulässig abgewiesen und darüber hinaus ausgeführt, sie „wäre“ auch unbegründet. Hiergegen legte der Kläger die vom OVG zugelassene Berufung ein. Im Mai 2021 wies die Berichterstatterin auf die Möglichkeit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 130a VwGO hin. Hinweise darauf, wie das OVG voraussichtlich entscheiden werde, enthielt das Schreiben nicht. Einen Fehler dieser Anhörung hat der Kläger nicht beanstandet, sondern erklärt, er sei mit der vom OVG vorgeschlagenen Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung einverstanden. In einem weiteren Schreiben hat er dann aber im Juni 2021 auf das zwischenzeitliche Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) vom 03.06.2021 (BGBl I 2021, 1444) sowie auf den durch dieses Gesetz eingefügten § 45a SGB VIII hingewiesen und dazu geltend gemacht, diese Neuregelung stütze seine Rechtsposition, dass die Hochschule als Einrichtung mit anderer Zweckbestimmung nicht von dem Erlaubnisvorbehalt des § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII i.V.m. § 45a SGB VIII erfasst sei. Im Anschluss fand ein Telefongespräch der Senatsvorsitzenden mit dem Prozessbevollmächtigten des Klägers statt, ohne dass ein Vermerk in die Akten aufgenommen und den Beteiligten übersandt wurde. Das OVG hat im Juli 2021 nach § 130a VwGO im schriftlichen Verfahren entschieden und die Berufung durch Beschluss als unbegründet zurückgewiesen.
II. Die auch auf Verfahrensrügen gestützte Revision des Klägers hatte Erfolg. Das BVerwG hat die angefochtene Entscheidung wegen Verfahrensfehlern aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das OVG zurückverwiesen. Dieses hätte nach Auffassung der Revisionsinstanz nicht im schriftlichen Verfahren entscheiden dürfen, weil es den Kläger – erstens – nicht ordnungsgemäß angehört und darüber hinaus – zweitens – ermessensfehlerhaft gemäß § 130a Satz 1 VwGO von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat. Dies begründet das BVerwG im Wesentlichen wie folgt:
1. Die Mitteilung des OVG vom Mai 2021 genügte nicht den Anforderungen des § 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO, wonach die Beteiligten vor einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in dem Verfahren nach § 130a VwGO zu hören sind. Von einer ordnungsgemäßen Anhörung im Sinne dieser Vorschrift kann nur dann ausgegangen werden, wenn das Berufungsgericht im Anhörungsschreiben unmissverständlich erkennen lässt, wie es zu entscheiden beabsichtigt, und zwar sowohl hinsichtlich der Verfahrensweise – ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss – als auch hinsichtlich der beabsichtigten Sachentscheidung – Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung. Diesen Anforderungen genügte die schriftliche Anhörungsmitteilung vom Mai 2021 schon deshalb nicht, weil sie keinerlei Festlegung dazu enthielt, welche Entscheidung in der Sache getroffen werden sollte, sondern lediglich unter Wiederholung des Gesetzeswortlauts mitteilte, dass eine Entscheidung über die Berufung gemäß § 130a Satz 1 VwGO in Erwägung gezogen werde.
a) Der Kläger konnte sich allerdings auf diesen Verstoß gegen das Anhörungserfordernis des § 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO und die darauf gestützte Rüge der Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht erfolgreich berufen, weil er sein Rügerecht bereits in der Berufungsinstanz verloren hat (nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. den §§ 295 und 556 ZPO). Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte in seinem Schriftsatz von Anfang Juni 2021 den offensichtlichen Anhörungsmangel nicht beanstandet, obgleich ihm als Rechtskundigem zumindest hätte bekannt sein müssen, dass die schriftliche Anhörungsmitteilung des OVG vom Mai 2021 (offensichtlich) fehlerhaft war. Er hatte sich dabei nicht nur rügelos auf das weitere Verfahren nach § 130a VwGO eingelassen, sondern sogar ausdrücklich erklärt, mit der vom OVG vorgeschlagenen Verfahrensweise einverstanden zu sein.
b) Das OVG ist jedoch seiner nach diesem Zeitpunkt entstandenen Verpflichtung zur erneuten Anhörung des Klägers gemäß § 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO nicht nachgekommen. Einer erneuten Anhörung bedarf es, wenn ein Beteiligter auf die erste Anhörung hin wesentliche neue Tatsachen oder Rechtsausführungen vorbringt oder sich sonst die Prozesssituation wesentlich geändert hat. Letzteres war hier der Fall, weil die maßgebliche Rechtslage mit dem Inkrafttreten des KJSG im Juni 2021 eine wesentliche Änderung erfahren hatte. Denn durch dieses Gesetz wurde § 45a in das SGB VIII eingefügt, der eine Legaldefinition des Begriffs der „Einrichtung“ enthält, und es wurde ein entsprechender Verweis auf diese Legaldefinition in § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII aufgenommen. Die Rechtsänderung betraf damit nach der insofern maßgeblichen Rechtsauffassung des OVG unmittelbar die zwischen den Beteiligten streitige Frage des Umfangs der Betriebserlaubnispflicht nach § 45 Abs. 1 SGB VIII.
Der Kläger war nach dieser Änderung der entscheidungserheblichen Rechtslage nicht mehr ordnungsgemäß angehört worden. Das insoweit allein als Anhörung in Betracht kommende Telefongespräch, das die Senatsvorsitzende nach dem Vortrag des Klägers im Juni 2021 mit seinem Prozessbevollmächtigten geführt hat, genügte jedenfalls nicht den gesetzlichen Anforderungen, die sich aus § 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO an mündliche Erklärungen ergeben. Danach entspricht eine mündliche Anhörung – was der 5. Senat des BVerwG eingehend im Wege der Auslegung begründet – nur dann den sich aus den vorgenannten Regelungen folgenden Anforderungen, wenn sie vom Gericht aktenkundig gemacht, also schriftlich in den Akten dokumentiert und den Beteiligten zur Kenntnis gebracht worden ist. Dies war hier nicht geschehen.
2. Das OVG hat darüber hinaus – wie das BVerwG weiter ausführt – einen weiteren Verfahrensfehler begangen, indem es in ermessensfehlerhafter Weise von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat. Die nach § 130a Satz 1 VwGO zu treffende Entscheidung steht zwar im pflichtgemäßen und vom Revisionsgericht nur eingeschränkt – nämlich auf sachfremde Erwägungen und eine grobe Fehleinschätzung überprüfbaren – Ermessen des Berufungsgerichts. Dieses hat aber zu berücksichtigen, dass dem Gebot, die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit im Rahmen einer mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten zu erörtern, eine umso stärkere Bedeutung zukommt, je vielschichtiger der Streitstoff ist und je schwieriger und komplexer die Rechtsfragen sind, die sich ihm stellen. Das gilt neben einer (hier nicht vorliegenden) erheblichen Änderung der Tatsachenlage auch dann, wenn nach der erstinstanzlichen Entscheidung des VG eine entscheidungserhebliche Änderung der Rechtslage eingetreten ist, die dazu führt, dass sich das Berufungsgericht im Instanzenzug erstmals mit den betreffenden Rechtsfragen zu befassen hat. Danach durfte das OVG hier zwar, ohne dass insoweit eine grobe Fehleinschätzung erkennbar gewesen wäre, davon ausgehen, dass für sich genommen weder die Komplexität des Streitstoffs noch die Schwierigkeit der aufgeworfenen Rechtsfragen als solche eine mündliche Verhandlung erforderlich machten. Es hätte nach Ansicht des BVerwG aber berücksichtigen müssen, dass mit dem Inkrafttreten des KJSG im Juni 2021 während des Berufungsverfahrens eine entscheidungserhebliche und wesentliche Änderung der Rechtslage eingetreten ist, zu der sich die Beteiligten im bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht in mündlicher Verhandlung äußern konnten und deren Inhalt ausweislich der ausführlichen Auslegung durch das OVG in dem angegriffenen Beschluss auch nicht ohne Weiteres „auf der Hand“ lag. Darüber hinaus hätte es in diesem Zusammenhang auch in Erwägung ziehen müssen, dass das VG die Klage als unzulässig abgewiesen und deshalb gerade noch keine verbindliche Entscheidung zur materiellen Rechtslage getroffen hatte.
3. Der aus der ermessensfehlerhaften Entscheidung nach § 130a VwGO folgende Verstoß des OVG gegen das Gebot, mündlich zu verhandeln (§ 101 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), verletzte zugleich den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, §§ 108 Abs. 2, 138 Nr. 3 VwGO) sowie in der vorliegenden Konstellation – wie das BVerwG weiter eingehend ausführt – zusätzlich sein Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 138 Nr. 1 VwGO). Dies führte zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Zur ordnungsgemäßen Anhörung
Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG sind an die Ordnungsmäßigkeit der gesetzlich vorgeschriebenen Anhörung (§ 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO) in formeller und inhaltlicher Hinsicht strenge Anforderungen zu stellen, weil das damit eingeleitete Verfahren es dem Berufungsgericht ermöglicht, ohne die auch im Berufungsverfahren grundsätzlich vorgesehene mündliche Verhandlung (§ 125 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 101 Abs. 1 VwGO) zu entscheiden (BVerwG, Beschl. v. 24.04.2017 - 6 B 17/17 Rn. 11; BVerwG, Beschl. v. 22.03.2021 - 1 B 4/21 Rn. 10 m.w.N.). Im Hinblick auf die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Anhörung knüpft auch die vorliegende Entscheidung des 5. Senats des BVerwG zunächst an die in ständiger Rechtsprechung des Gerichts vertretene Anforderung an, dass die Anhörungsmitteilung unmissverständlich erkennen lassen muss, wie das Berufungsgericht zu entscheiden beabsichtigt (BVerwG, Urt. v. 21.03.2000 - 9 C 39/99 - BVerwGE 111, 69, 75 f.; BVerwG, Beschl. v. 12.06.2018 - 9 B 4/18 Rn. 14 m.w.N. - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr 89 Rn. 14 m.w.N.). Die Beteiligten müssen in der Anhörung zudem den Hinweis erhalten, dass sie sich zu dem beabsichtigten Verfahren äußern können (BVerwG, Beschl. v. 24.04.2017 - 6 B 17/17 Rn. 11). Dies macht es zwingend erforderlich, dass eine Anhörung allen Verfahrensbeteiligten übermittelt bzw. zur Kenntnis gebracht wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.12.1979 - 7 C 76/78 - Buchholz 312 EntlG Nr 12, wonach eine Anhörungsmitteilung nur dann ordnungsgemäß ist, wenn sie den Beteiligten zugegangen und der Zugang durch das Gericht nachgewiesen ist).
1. Zu den Anforderungen an eine mündliche Anhörung
Obgleich sich die Schriftform empfiehlt und üblich ist, ist eine mündliche (z.B. telefonische) Anhörung von Gesetzes wegen nicht von vornherein ausgeschlossen. Eine solche kann den formellen Anforderungen des § 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO nach der nunmehr getroffenen Entscheidung des 5. Senats des BVerwG aber nur dann genügen, wenn sie vom Gericht aktenkundig gemacht und den Beteiligten zur Kenntnis gebracht worden ist. Verleiht der Gesetzgeber, wie in § 130a VwGO geschehen, dem Berufungsgericht unter bestimmten Voraussetzungen die Befugnis, gegen den Willen der Beteiligten ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden, entspricht es den Grundsätzen eines fairen Verfahrens, eine hinreichende und für die Beteiligten transparente Dokumentation der Anhörungsmitteilung zu verlangen, weil diese nur so ihrer Funktion, den Beteiligten eine verfahrensangemessene Äußerungsmöglichkeit zu eröffnen, gerecht werden und damit zugleich den Wegfall der mündlichen Berufungsverhandlung teilweise kompensieren kann (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 21.03.2000 - 9 C 39/99 - BVerwGE 111, 69, 74). Eine schriftliche Dokumentation einer mündlichen Anhörung ist nach dem dargelegten Sinn und Zweck des § 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO auch aus Gründen der Rechtssicherheit geboten, um einen hinreichenden Schutz vor Unsicherheiten über den Erklärungsinhalt von mündlichen Erklärungen zu gewährleisten.
2. Zum Erfordernis erneuter Anhörung
Ständiger Rechtsprechung des BVerwG – auf die der 5. Senat in der vorliegenden Entscheidung verweist – entspricht es, dass es unter bestimmten Voraussetzungen einer erneuten Anhörung bedarf. Eine solche ist nach § 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO erforderlich, wenn ein Beteiligter auf die erste Anhörung hin wesentliche neue Tatsachen oder Rechtsausführungen vorbringt oder sich sonst die Prozesssituation wesentlich geändert hat (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 29.06.2020 - 2 B 37/19 Rn. 21 m.w.N.).
II. Zum Rügeverlust
Auch hinsichtlich eines etwaigen Rügeverlustes konnte das BVerwG in der vorliegenden Entscheidung zunächst auf seine ständige Rechtsprechung verweisen, wonach die zivilprozessualen Vorschriften über den Verlust des Rügerechts und insbesondere § 295 ZPO gemäß § 173 Satz 1 VwGO auch im Verwaltungsprozess entsprechend anwendbar sind (BVerwG, Urt. v. 16.12.1980 - 6 C 110/79 - ZBR 1982, 30 f.; BVerwG, Beschl. v. 18.07.2019 - 2 B 7/19 Rn. 9 m.w.N. - Buchholz 303 § 295 ZPO Nr 18). Das gilt auch für § 556 ZPO (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.11.2014 - 4 C 37/13 Rn. 19 - NVwZ-RR 2015, 292). Danach kann die Verletzung einer das Verfahren der Berufungsinstanz betreffenden Vorschrift in der Revisionsinstanz nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei das Rügerecht bereits in der Berufungsinstanz nach der Vorschrift des § 295 ZPO verloren hat. § 295 Abs. 1 ZPO bestimmt, dass die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden kann, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die aufgrund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. Die Regelung findet auch Anwendung, wenn in einem schriftlichen Verfahren entschieden werden soll. In diesen Fällen muss der Verfahrensfehler grundsätzlich in dem auf den Verfahrensfehler folgenden Schriftsatz gerügt werden (vgl. etwa Assmann in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2023, § 295 Rn. 42; Prütting in: MünchKomm ZPO, 6. Aufl. 2020, § 295 Rn. 41). Nach § 295 Abs. 2 ZPO ist Absatz 1 der Vorschrift zwar nicht anzuwenden und kann ein Rügeverlust nicht eintreten, wenn Vorschriften verletzt sind, auf deren Befolgung eine Partei nicht wirksam verzichten kann. Zu den nicht verzichtbaren Vorschriften i.S.v. § 295 Abs. 2 ZPO gehört der Anspruch auf rechtliches Gehör, der den Beteiligten zur Wahrung ihrer eigenen Interessen eingeräumt ist, jedoch nicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.04.1983 - 9 B 1610/81 - Buchholz 310 § 55 VwGO Nr 6 S. 2 m.w.N.).
III. Zur ermessensfehlerhaften Entscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO
Die nach § 130a Satz 1 VwGO im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts stehende Entscheidung darüber, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden wird, kann vom BVerwG zwar nur daraufhin überprüft werden, ob dem OVG Ermessensfehler unterlaufen sind. Sie ist deshalb seitens des Revisionsgerichts nur zu beanstanden, wenn sie auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung beruht (st.Rspr., vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 30.06.2004 - 6 C 28/03 - BVerwGE 121, 211, 213; BVerwG, Beschl. v. 08.07.2022 - 9 B 33/21 Rn. 5 m.w.N.). Bei der Ausübung dieses Ermessens hat das Berufungsgericht Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefunden hat, vorrangig zu beachten. Ermessensfehlerhaft ist eine Entscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO danach insbesondere dann, wenn die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nach den Gesamtumständen des Einzelfalls außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 30.06.2004 - 6 C 28/03 - BVerwGE 121, 211, 217; BVerwG, Beschl. v. 08.07.2022 - 9 B 33/21 Rn. 6). Überdies ist eine mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren grundsätzlich auch dann geboten, wenn für die Entscheidung des Berufungsgerichts neue, im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht angesprochene Rechtsfragen oder Tatsachen entscheidungserheblich werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.12.2022 - 4 C 7/21 Rn. 13 m.w.N. - DVBl 2023, 862 mit Anm. Külpmann, jurisPR-BVerwG 10/2023 Anm. 1).
IV. Zu den (weiteren) Rechtsfolgen von Verstößen gegen § 130a VwGO
Ein Verstoß gegen das Erfordernis, die Beteiligten vor einer Entscheidung im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130a VwGO ordnungsgemäß anzuhören (nach § 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO), begründet nach der Rechtsprechung des BVerwG zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 05.09.2007 - 3 B 33/07 Rn. 3 m.w.N. - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr 75).
Sieht das OVG auf der Grundlage des § 130a Satz 1 VwGO ermessensfehlerhaft von der mündlichen Verhandlung ab, verstößt seine Entscheidung gegen das Mündlichkeitsgebot (§ 101 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Eine unter Verstoß gegen § 101 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergangene Entscheidung stellt nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG wiederum zugleich eine Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs und damit des absoluten Revisionsgrundes i.S.v. § 138 Nr. 3 VwGO dar (BVerwG, Urt. v. 09.12.2010 - 10 C 13/09 Rn. 26 m.w.N. - BVerwGE 138, 289). Überdies kann die Regelung des § 138 Nr. 1 VwGO einschlägig sein. Nach dieser Vorschrift ist ein Urteil stets auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Ein die Voraussetzungen des § 138 Nr. 1 VwGO erfüllender Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann nach der aktuellen Entscheidung des 5. Senat des BVerwG vorliegen, wenn eine durch eine fehlerhafte Entscheidung nach der Verfahrensvorschrift des § 130a Satz 1 VwGO bedingte Verletzung des Anspruchs auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts führt (vgl. ebenso bereits BSG, Beschl. v. 12.02.2015 - B 10 ÜG 8/14 B - SozR 4-1720 § 198 Nr 8 Rn. 18 m.w.N.; Neumann/Korbmacher in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138 Rn. 38; offengelassen in BVerwG, Beschl. v. 17.11.1994 - 1 B 42/94 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr 11 S. 1 f.). Das ist der Fall, wenn – wie im Streitfall – für das schriftliche Verfahren nach § 130a VwGO nach Landesrecht eine andere Besetzung des Gerichts als im Urteilsverfahren vorgesehen ist. Dies trifft etwa in den Fällen des § 9 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 109 Abs. 1 Satz 2 JustG NRW zu, wonach die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung abweichend von § 109 Abs. 1 Satz 1 JustG NRW nicht mitwirken, so dass die Senate des OVG in solchen Fällen nur in der Besetzung von drei Berufsrichterinnen oder -richtern entscheiden.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des BVerwG bestätigt unter anderem seine in ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung, dass an die Ordnungsmäßigkeit einer Anhörung nach § 130a VwGO in formeller und inhaltlicher Hinsicht strenge Anforderungen zu stellen sind. Hat sich die Prozesssituation nach einer ersten Anhörung wesentlich geändert, weil sich neue Tatsachen- oder Rechtsfragen stellen, ist das OVG verpflichtet, die Beteiligten erneut anzuhören (§ 130a Satz 2 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO), wenn es daran festhalten will, im Beschlussverfahren zu entscheiden. Bei einer wesentlichen Änderung der Sach- und/oder Rechtslage kann die Entscheidung des OVG, nach § 130a Satz 1 VwGO von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abzusehen, darüber hinaus ermessensfehlerhaft sein und deshalb einen Verstoß gegen das Mündlichkeitsgebot (§ 101 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO) darstellen. Liegt ein solcher Verstoß vor, begründet dies wiederum eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO). Damit kann zugleich auch eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) einhergehen, wenn der Verfahrensverstoß zu einem Besetzungsfehler führt. Von Letzterem ist auszugehen, wenn Landesrecht für das Beschlussverfahren eine andere Besetzung des OVG vorsieht als für das Urteilsverfahren.



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