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Anmerkung zu:BGH 2. Zivilsenat, Urteil vom 23.05.2023 - II ZR 219/21
Autor:Dr. Martin Flick, RA
Erscheinungsdatum:26.09.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 11 WpÜG, § 293 AktG, § 305 AktG, § 38 WpHG, § 31 WpÜG, § 3 WpÜG, § 291 BGB, § 288 BGB
Fundstelle:jurisPR-HaGesR 9/2023 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Jörn-Christian Schulze, RA und FA für Handels- und Gesellschaftsrecht
Zitiervorschlag:Flick, jurisPR-HaGesR 9/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Vereinbarung über den Erwerb von Aktien: Grundlage für ein Übereignungsverlangen



Leitsätze

1a. Eine dem Erwerb im Sinne der Absätze 3 bis 5 gleichgestellte Vereinbarung setzt nicht voraus, dass der Bieter die Übereignung von Aktien verlangen kann.
1b. Eine Vereinbarung ist bereits dann eine Grundlage für ein Übereignungsverlangen, wenn sie bei objektiver Betrachtung eine auf den Erwerb von Aktien der Zielgesellschaft gerichtete rechtsgeschäftliche Disposition des Bieters enthält, in der zum Ausdruck kommt, dass er bereit ist, eine Gegenleistung für den Aktienerwerb zu erbringen, die die nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 WpÜG angebotene Gegenleistung übersteigt.
2. Eine Vereinbarung, mit der sich ein Paketaktionär vor dem Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags verpflichtet, mit seinen Stimmrechten die Zustimmung der Hauptversammlung nach § 293 Abs. 1 Satz 1 AktG zum Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags zu unterstützen, wenn den außenstehenden Aktionären eine dem Betrag nach bestimmte Mindestabfindung angeboten wird, steht nicht im Zusammenhang mit der gesetzlichen Verpflichtung zur Gewährung einer Abfindung an Aktionäre der Zielgesellschaft gemäß § 305 Abs. 1 AktG.



A.
Problemstellung
Das Übernahmerecht schreibt unter anderem für Übernahme- und Pflichtangebote einen Mindestpreis vor. Dafür sind auch Vor- oder Nacherwerbspreise und Vereinbarungen, die einem solchen Erwerb gleichgestellt sind, maßgeblich. Die Entscheidung beschäftigt sich mit der Frage, wann im Zusammenhang mit einem Übernahmeangebot eine solche Vereinbarung vorliegt, nach der eine einem (Vor- oder Nach-)Erwerb gleichgestellte Vereinbarung vorliegt. Außerdem beschäftigt sich die Entscheidung mit der Frage der Reichweite der Ausnahme von § 31 Abs. 5 Satz 2 Fall 1 WpÜG, wonach gesetzliche Abfindungszahlungen für die übernahmerechtlich mindestens zu bietende Gegenleistung nicht relevant sein sollen. Inwieweit Vereinbarungen, die solche Abfindungszahlungen regeln, von der Ausnahme erfasst werden, stand bislang zur Diskussion.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Beklagte veröffentlichte ein freiwilliges Übernahmeangebot zu einem Angebotspreis i.H.v. 66,25 Euro je Aktie mit einer Mindestannahmeschwelle von 63% in Bezug auf Aktien einer Zielgesellschaft, die im regulierten Markt notiert waren. Nach Ablauf der Annahmefrist machte die Beklagte bekannt, dass die Mindestannahmeschwelle erreicht worden sei. Während der sich daran anschließenden weiteren Annahmefrist nahm die Klägerin das Übernahmeangebot an. Während dieser weiteren Annahmefrist schlossen die Beklagte und der Aktionär E der Zielgesellschaft eine Vereinbarung („Irrevocable Committment“, kurz „IC“), in der sich der Aktionär E verpflichtete, einem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag zwischen der Zielgesellschaft und der Beklagten zuzustimmen, wenn die darin festgelegte Abfindung für außenstehende Aktionäre mindestens 74,40 Euro je Aktie betrage. Der Aktionär E hielt 13,26% an der Zielgesellschaft. Die Beklagte wollte sich mit dieser Vereinbarung die Zustimmung zu dem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag sichern, weil sie mit eigenen Stimmrechten eine Mehrheit von drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Kapitals nicht erreichen konnte. Schließlich schlossen eine Tochtergesellschaft der Beklagten und die Zielgesellschaft einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag mit einer Abfindung für außenstehende Aktionäre i.H.v. 74,40 Euro je Aktie ab, nachdem die Beklagte ihre Aktien an der Zielgesellschaft in ihre Tochtergesellschaft eingebracht hatte. Im darauffolgenden Kalenderjahr wurde der Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag im Handelsregister eingetragen. Mehr als ein Jahr nach dem Übernahmeangebot der Beklagten veröffentlichte diese ein weiteres Übernahmeangebot zur Durchführung eines Delisting zum Preis i.H.v. 81,75 Euro je Aktie. Der Aktionär E nahm dieses Angebot aufgrund einer zuvor abgeschlossenen Andienungsvereinbarung an.
Die Klägerin verlangte von der Beklagten die Differenz zwischen dem Angebotspreis des ersten Übernahmeangebots zu dem Abfindungsbetrag i.H.v. 74,40 Euro je Aktie. LG und OLG wiesen die Klage ab. Der BGH hat der Klage stattgegeben.
Der BGH wertet das IC als eine Vereinbarung nach § 31 Abs. 6 WpÜG, die einem Erwerb nach § 31 Abs. 3 bis 5 WpÜG gleichgestellt und somit vor- oder nacherwerbsrelevant ist. Eine Vereinbarung nach § 31 Abs. 6 WpÜG setze nicht voraus, dass der Bieter die Übereignung von Aktien verlangen könne. Entgegen der ganz überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und im Schrifttum komme es nicht darauf an, ob der Bieter oder sein Vertragspartner aufgrund einer Vereinbarung die Übereignung von Aktien der Zielgesellschaft verlangen könne. Es genüge, dass eine Übereignung der Aktien aus der Vereinbarung verlangt werden kann. Nach dem Wortlaut sei es nicht erforderlich, dass dem Bieter dieses Verlangen zustehe, der Gesetzeswortlaut sei weiter gefasst als andere Normen, in denen ein konkretes Übereignungsverlangen in vergleichbarer Weise geregelt sei. Wie der Erwerb zustande komme, sei unerheblich. Es sei deshalb auch keine einschränkende Auslegung angezeigt, wie etwa von einer Meinung vertreten mit Blick auf § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG oder § 20 Abs. 2 AktG. Beide zuletzt genannten Normen regelten andere Zwecke und gäben nichts für die Auslegung her, wonach § 31 Abs. 6 WpÜG einschränkend auszulegen sei. § 31 Abs. 6 WpÜG solle darüber hinaus vor Umgehung schützen, weshalb aus dieser Zielsetzung seine Reichweite zu bestimmen sei. Auch aus den Gesetzesmaterialien folge, dass „Verträge zum Erwerb von Aktien“ erfasst sein sollten, ohne dass es darauf ankomme, ob der Bieter diesen Erwerb verlangen könne. Sinn und Zweck von § 31 Abs. 6 WpÜG sei, eine Umgehung der in § 31 Abs. 1 Satz 2 WpÜG zu vermeiden. § 31 Abs. 1 Satz 2 WpÜG regle den dinglichen Erwerb durch schuldrechtliche Vereinbarung. Wenn statt eines Erwerbs eine schuldrechtliche Vereinbarung geschlossen werde, soll bei der Bestimmung des Vorerwerbspreises auf diese Vereinbarung abzustellen sein. Der Bieter soll damit an dem Preis festgehalten werden, den er im zeitlichen Zusammenhang mit dem Übernahmeangebot selbst als angemessen angesehen habe. Diese Erwägungen seien bei § 31 Abs. 4 und 5 WpÜG gleichgestellten Vereinbarungen zu berücksichtigen, in denen auch eine Gleichbehandlung der Aktionäre zum Ausdruck komme, die in § 3 Abs. 1 WpÜG gesetzlich normiert sei. Schließlich habe sich der Bieter selbst durch rechtsgeschäftliche Disposition freiwillig so gebunden. Er habe durch die Einräumung eines Andienungsrechts zu erkennen gegeben, zu welchem Preis er bereit sei, Aktien zu erwerben. Eine Bevorzugung einzelner Aktionäre sei dabei nicht möglich. Es sei auch irrelevant, ob es später tatsächlich zu der Ausübung des Andienungsrechts komme oder ob der Bieter den Erwerb durchsetzen könne. Entscheidend sei, dass der Bieter zum Ausdruck gebracht habe, welchen Preis er bereit sei, für einen Erwerb zu bezahlen. Endlich stellt der BGH klar, dass es auch nicht davon abhänge, ob der Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag durch Eintragung im Handelsregister wirksam werde. Erst mit Wirksamkeit könne das Andienungsrecht gegenüber dem Bieter ausgeübt werden. Der BGH meint, bei mehraktigen Vorgängen (wie hier) genüge bereits die Ermöglichung eines Aktienerwerbs. Denn mit Abschluss der Vereinbarung habe der Bieter seine Bereitschaft signalisiert, zu dem vereinbarten Preis Aktien zu erwerben.
Schließlich verneint der BGH auch die Ausnahme, wonach eine gesetzliche Verpflichtung zur Zahlung einer Abfindung keine Preisrelevanz im Übernahmerecht hat, vgl. § 31 Abs. 6 Satz 1, Abs. 5 Satz 2 Fall 1 WpÜG. Vereinbarungen, die gesetzliche Verpflichtungen einer Abfindung regeln, seien von dieser Ausnahmeregelung nicht erfasst. Diese Ausnahmeregel sei sowohl vom Charakter ihrer Bestimmung her, von ihrem Sinn und Zweck her, als auch von ihrer Entstehungsgeschichte her eng auszulegen, weshalb eine Gleichbehandlung der Aktionäre nicht durch eine innerhalb des vor- oder nacherwerbsrelevanten Zeitraums abgeschlossene Vereinbarung ausgehöhlt werden dürfe. Außerdem sei eine Umgehung des Anwendungsbereichs von § 31 Abs. 5 Satz 1 WpÜG sonst möglich, der an einen Aktienerwerb anknüpfe. Auch das Gegenargument, die Abfindung sei eine gesetzliche Verpflichtung und müsse zwingend dem dem Bieter sich entziehenden Marktwert entsprechen, der nach einem Spruchverfahren sogar angepasst werden könne, greife nicht durch. Denn der Bieter habe freiwillig eine Vereinbarung getroffen, die einen Preis über dem des Angebots enthalte. Es komme übernahmerechtlich auch nicht darauf an, dass sich die Abfindung an alle Aktionäre außerhalb des Übernahmeangebots richte. Denn damit manifestiere sich die Ungleichbehandlung, weil nur diejenigen Aktionäre die höhere Abfindung erhielten, die ihre Aktien nicht in das Übernahmeangebot eingereicht hätten. Gerade solches soll aber durch die Vorschriften, die die Berücksichtigung von Vor- und Nacherwerben innerhalb der darin bestimmten Zeiträume, also etwa für ein Jahr nach Ablauf der Angebotsfrist, für den mindestens zu bietenden Angebotspreis bestimmen, verhindert werden. Ob indes im Spruchverfahren eine höhere Abfindung festgelegt werde, sei ohne Bedeutung. Mit Abschluss des IC sei der übernahmerechtliche Nachbesserungsanspruch entstanden, nachträgliche Entwicklungen seien nicht zu berücksichtigen.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung setzt neue Maßstäbe in der für das Übernahmerecht entscheidenden Frage der angemessenen Gegenleistung. Die bisher überwiegende Meinung im Schrifttum und auch in der Rechtsprechung, wann eine einem Erwerb gleichgestellte Vereinbarung vorliegt, die gegenleistungsrelevant ist bei dem Erwerb gleichgestellten Vereinbarungen, ist überholt.
Schon mit seiner Entscheidung im Jahre 2017 (BGH, Urt. v. 07.11.2017 - II ZR 37/16 - AG 2018, 105 = WM 2018, 18) hatte der BGH diese Rechtsprechung vorbereitet. Bereits 2017 hatte der BGH unterstrichen, dass es auf die vom Bieter mit einer Vereinbarung bekundete Absicht ankomme, welchen Preis er bereit sei, zu bezahlen. In der damaligen Entscheidung urteilte der BGH, dass eine Vereinbarung, die zum Erwerb von Wandelschuldverschreibungen berechtige, eine Vereinbarung i.S.d. § 31 Abs. 6 WpÜG sei und somit neben dem originären auch der abgeleitete Erwerb von Wandelschuldverschreibungen bei der Berechnung der angemessenen Gegenleistung von Übernahmeangeboten zu berücksichtigen sei.
Auch in der Übernahmesache „Deutsche Bank/Postbank“ hatte der BGH wirtschaftliche Überlegungen und die Gleichbehandlung aller Aktionäre betont (BGH, Urt. v. 13.12.2022 - II ZR 9/21 und II ZR 14/21, m. Anm. Dahmen, GWR 2023, 86). Diese Sache ist allerdings noch nicht endgültig entschieden, sondern wurde kürzlich an das OLG Köln zur weiteren Tatsachenaufarbeitung zurückverwiesen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis bedeutet diese Entscheidung eine Neuorientierung bei der Strukturierung von Übernahmeverfahren in zweierlei Hinsichten: Erstens genügt es, dass der Bieter in der vor- und nacherwerbsrelevanten Zeit in einer Vereinbarung zum Ausdruck bringt, bereit zu sein, an einen anderen Aktionär einen höheren Preis zu bezahlen. Zweitens ist es ebenfalls angebotsrelevant, wenn eine solche Vereinbarung erst den Grundstein für den danach zu zahlenden höheren Preis legt und es sich insgesamt um einen mehraktigen Erwerb handelt.
Es ist nicht unüblich, dass der Bieter zur Vorbereitung eines Übernahmeverfahrens oder im Nachgang einer erfolgten Übernahme, etwa für folgende Strukturmaßnahmen bei der Zielgesellschaft, Vereinbarungen mit anderen Aktionären der Zielgesellschaft schließt. Bei solchen Vereinbarungen und der Strukturierung von Übernahme- oder Pflichtangeboten wird künftig die vorliegende Rechtsprechung zu berücksichtigen sein. Es kommt dabei entgegen der bisher überwiegenden Meinung nicht darauf an, dass der Bieter diesen Erwerb verlangen kann. Sobald Erwerbsmöglichkeiten für den Bieter oder seine Tochtergesellschaften enthalten sind, die auch von Dritten ausgelöst werden können, sind die darin genannten Preise relevant für die Berechnung der Mindestgegenleistung.
Sondervorteile für Paketverkäufer von Aktien der Zielgesellschaft dürften nun ebenfalls erheblich erschwert worden sein. Die Gleichbehandlung der Aktionäre der Zielgesellschaft, die nach § 3 Abs. 1 WpÜG für den Bieter gilt, ist ein zentrales Argument der vorliegenden Entscheidung.


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Nebenbei meldet der BGH Zweifel zu der Meinung an, die eine teleologische Reduktion des Nacherwerbsanspruchs fordert, wenn die abgestimmte Gegenleistung (hier aus dem IC) unter dem Börsenkurs liege, ohne diese Meinung endgültig abzulehnen. Teilweise wird vertreten, eine Nachzahlung an die ein Angebot annehmenden Aktionäre sei nicht berechtigt, wenn der Bieter außerbörslich Aktien erwerbe unter dem Börsenkurs (vgl. etwa Kremer-Kulenkamp in: Kölner Komm. WpÜG, 3. Aufl. 2022, § 31 Rn. 94). Der BGH entschied diese Frage nicht, weil durch die Vereinbarung kein Erwerb zum Börsenkurs erfolgt sei. Er meinte allerdings, dass es nicht darauf ankomme, ob die mit dem IC abgestimmte Gegenleistung unter dem Börsenkurs bei Vertragsschluss gelegen habe oder nicht.
Schließlich meinte der BGH, der Nachbesserungsanspruch verzinse sich wie eine Entgeltforderung nach den §§ 291, 288 Abs. 2 BGB, weil der Anspruch auf die Gegenleistung auf der Annahme des Angebots beruhe und daher einen auf Erfüllung gerichteten vertraglichen Anspruch darstelle, was auch für den Nachbesserungsanspruch gelte.



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