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Anmerkung zu:BGH 9. Zivilsenat, EUGH-Vorlage vom 29.06.2023 - IX ZB 35/22
Autor:Dr. Friedrich L. Cranshaw, RA
Erscheinungsdatum:06.09.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 36 InsO, § 34 InsO, § 111 AktG, § 113 AktG, § 577 ZPO, § 110 AktG, § 3 InsO, § 12 ZPO, § 13 ZPO, § 21 InsO, § 4 InsO, § 281 ZPO, EGV 1346/2000, 12016E267, EUV 2015/848
Fundstelle:jurisPR-InsR 13/2023 Anm. 1
Herausgeber:Ministerialrat Alexander Bornemann
Dr. Daniel Wozniak, RA, FA für Insolvenz- und Sanierungsrecht, FA für Handels- und Gesellschaftsrecht und FA für Steuerrecht
Zitiervorschlag:Cranshaw, jurisPR-InsR 13/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Internationale Zuständigkeit in Insolvenzsachen nach Art. 3 EuInsVO bei selbstständig bzw. freiberuflich grenzüberschreitend tätiger natürlicher Person



Leitsätze

Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b, Abs. 3 AEUV folgende Fragen vorgelegt:
1. Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 i.V.m. Art. 2 Nr. 10 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (fortan: Europäische Insolvenzverordnung - EuInsVO) dahin auszulegen, dass der Tätigkeitsort einer selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person auch dann eine Niederlassung darstellt, wenn die ausgeübte Tätigkeit keinen Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt?
2. Sofern Frage 1 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 3 Satz 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass dann, wenn eine selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätige natürliche Person keine Niederlassung i.S.v. Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen derjenige Ort ist, an welchem die selbstständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausgeübt wird?
3. Sofern Frage 2 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass bei einer selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person, die keine Niederlassung i.S.v. Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist?



Orientierungssatz zur Anmerkung

Der EuGH soll im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV zu der Frage entscheiden, nach welchen Kriterien die internationale Zuständigkeit gemäß Art. 3 EuInsVO für Insolvenzverfahren bei natürlichen Personen mit selbstständiger Tätigkeit zu beurteilen ist, die weltweit mehrere Tätigkeits- bzw. Aufenthaltsorte (Deutschland, Drittstaaten) haben könnten.



A.
Problemstellung
I. Der BGH hat dem EuGH die in den vorstehend abgedruckten Leitsätzen des IX. Zivilsenats wiedergegebenen Fragen zur internationalen Zuständigkeit nach Art. 3 EuInsVO (2015; Verordnung (EU) 2015/848) vorgelegt. Betroffen ist der Fall einer selbstständig tätigen natürlichen Person mit verschiedenen inländischen bzw. internationalen Wohnungen (Wohnsitzen) bzw. etwaigen Aufenthaltsorten (auch außerhalb der EU).
Fragen zur internationalen Zuständigkeit hatte der EuGH unter mehreren Aspekten schon mehrfach seit Inkrafttreten der EuInsVO 2000 (Verordnung (EG) 1346/2000) zu entscheiden, vorliegend urteilt er zur EuInsVO 2015.
Die Thematik ist verfahrensrechtlich einigermaßen schwierig, wie die Vorlagefragen des BGH im vorliegenden Fall zeigen, und keineswegs geklärt.
II. Die Antwort des EuGH auf die vom BGH vorgelegten Fragen ist nicht nur prozessrechtlich von erheblicher Bedeutung und Komplexität, sondern auch materiell-rechtlich keineswegs trivial, da die internationale Zuständigkeit mittels des Art. 3 EuInsVO über die interessante Struktur der EuInsVO geradewegs dazu führt, dass das Recht des Eröffnungsstaats als lex fori concursus auf den betreffenden Fall anzuwenden ist (Art. 7 Abs. 1 EuInsVO 2015); vgl. zu den der lex fori concursus unterworfenen Gegenständen die Beispiele des Art. 7 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a ff. EuInsVO 2015 = Art. 4 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a ff. EuInsVO 2000.
III. Ein Insolvenzschuldner, bezüglich dessen die Frage der internationalen Zuständigkeit offen ist, wird stets versuchen, die für ihn (ggf. auch nur anscheinend) günstigere Rechtsordnung als lex fori concursus zu reklamieren und sich gegen die Eröffnung in einem anderen, „ungünstigeren“ Staat stemmen. Nur beispielhaft könnte (aus seinem Blick) die Restschuldbefreiung in der präferierten Rechtsordnung günstiger strukturiert sein, es könnten beispielsweise Teile seines Vermögens nicht vom Insolvenzbeschlag betroffen sein (vgl. in Deutschland § 36 InsO) oder Anfechtungstatbestände bzw. deren Durchsetzung könnten weniger kritisch im konkreten Fall sein. Der größere Vorzug der präferierten Rechtsordnung könnte weiter in tatsächlicher wie auch anderweitiger rechtlicher Hinsicht außerhalb der bereits aufgeführten Beispiele bestehen: Gläubiger könnten Mühe mit fremden Amtssprachen haben, ihre Forderungen könnten nach der lex fori concursus rangmäßig anders eingestuft werden oder die für die Rechtsverfolgung entstehenden Kosten könnten diese unattraktiv machen. Besonders attraktiv könnte insoweit gerade auch ein Drittstaat für den Schuldner sein, so dass er zur internationalen Zuständigkeit der dortigen Gerichte im inländischen Insolvenzeröffnungsverfahren vorträgt und diejenige der inländischen Gerichte bestreitet.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Vor diesem Hintergrund ist der dem BGH vorliegende Fall angesiedelt; das Verfahren wurde nunmehr aufgrund der Vorlage an den EuGH zunächst ausgesetzt.
Der im vorliegenden Rechtsmittelverfahren im Rahmen des „Insolvenzeröffnungsverfahrens“ weitere Beteiligte (Gläubiger) hatte am 18.08.2020 das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners, einer natürlichen Person, beim AG Berlin-Charlottenburg (36b IE 3743/20) beantragt.
Der Schuldner war zum hier maßgeblichen Zeitpunkt des Insolvenzantrags Vorsitzender des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft mit Sitz in Mainz. Sein Vermögen bestand aus einem Kontoguthaben bei einer monegassischen Bank in Monaco sowie in Beteiligungen an Gesellschaften nach dem Recht von Monaco, die ihrerseits Guthaben, ein Wertpapierdepot und gesellschaftsrechtliche Beteiligungen in Deutschland halten. Wohnungen und damit zu unterstellende Wohnsitze bzw. Aufenthaltsorte hatte er zum relevanten Zeitpunkt der Stellung des Insolvenzantrags in Berlin, Monaco, Los Angeles und auf Saint-Barthélemy (kleine Antillen, Collectivité d'outre-mer der Französischen Republik).
II. Das AG Berlin-Charlottenburg hat den Insolvenzantrag mangels internationaler Zuständigkeit im Juli 2021 als unzulässig abgewiesen. Auf sofortige Beschwerde des Gläubigers (§ 34 Abs. 1 InsO) hat das LG Berlin den Beschluss im Juni 2022 aufgehoben und an das AG Berlin-Charlottenburg zurückverwiesen, hat aber die Rechtsbeschwerde zugelassen.
Die Kammer war der Auffassung, der Mittelpunkt der „hauptsächlichen Interessen des Schuldners“ (d.h. das COMI nach Art. 3 EuInsVO, das prägend für die internationale Zuständigkeit ist) befinde sich in Mainz, wo der Schuldner seiner selbstständigen Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender nachgehe. Der Schuldner hält die deutschen Gerichte für international nicht zuständig.
Auf seine Rechtsbeschwerde hat der Insolvenzrechtssenat des BGH das Rechtsbeschwerdeverfahren ausgesetzt und dem EuGH mit den oben wiedergegebenen Fragen zur internationalen Zuständigkeit nach Art. 267 AEUV vorgelegt.
III. Der BGH begründet seinen Vorlagenbeschluss wie folgt:
1. Von der Beurteilung der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach Art. 3 EuInsVO ausgehend, hält der Senat zunächst fest, dass diese Bestimmung sowohl für grenzüberschreitende Fälle mit EU-Mitgliedstaaten als auch mit Drittstaaten gilt (wozu übrigens auch Dänemark gehört). Der BGH bezieht sich hier auf eigene und Judikatur des EuGH (Urt. v. 16.01.2014 - C-328/12 „Schmid/Hertel“). International zuständig seien die Gerichte des Staates, in dem sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen (wirtschaftlichen) Interessen des Schuldners (= Centre of Main Interests, „COMI“) befinde. Das sei der Ort, von dem aus der Schuldner „gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgehe“ und der „für Dritte“ feststellbar ist (Wortlaut des Art. 3 Unterabs. 1 letzter Halbsatz EuInsVO 2015, zurückgehend auf Judikatur des EuGH).
2. Unterabsatz 3 Satz 1 der Norm vermute widerleglich im Hinblick auf natürliche Personen, die selbstständig oder freiberuflich tätig sind, als deren Hauptniederlassung den Ort des COMI. Bei allen anderen natürlichen Personen (d.h. außerhalb unternehmerischer Tätigkeit wie bei Arbeitnehmern bzw. Verbrauchern) gelte die ebenfalls widerlegliche Vermutung, ihr COMI sei der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts (Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO 2015).
3. Vorliegend habe das LG Berlin angenommen, der Schuldner übe zum hier entscheidenden Zeitpunkt der Stellung des Insolvenzantrags durch den verfahrensbeteiligten Gläubiger eine selbstständige bzw. gewerbliche Tätigkeit nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 EuInsVO aus. Deren Merkmale sind die Berufsausübung „im eigenen Namen, auf eigene Rechnung […,] in eigener Verantwortung“ und auf eigenes ökonomisches Risiko. Eine solche Konstellation sei nach dem „Sach- und Streitstand“ zu bejahen, denn der Aufsichtsrat einer AG deutschen Rechts sei unabhängig und nicht weisungsgebunden (vgl. unter anderem § 111 AktG; vgl. auch bei Grüneberg/Sprau, BGB, 82. Aufl. 2023, § 675 Rn. 28: Tätigkeit des Aufsichtsrats als Geschäftsbesorgung mit der Qualität einer Dienstleistung). Ihn könne auch ein Vergütungsrisiko treffen (wenn nämlich die Satzung eine Vergütung nicht vorsieht bzw. die Hauptversammlung eine solche nicht bewilligt, vgl. § 113 AktG).
4. Die Vermutung, das COMI einer natürlichen, selbstständig tätigen Person befinde sich am Ort ihrer Hauptniederlassung (vgl. vorstehend unter 2.) führt zu dem Begriff der Niederlassung (Art. 2 Nr. 10 EuInsVO 2015). Eine solche setzt einen Ort voraus, von dem aus der Schuldner nicht nur vorübergehend seine wirtschaftlichen Tätigkeiten verfolge und der den Einsatz von Personal- und Sachressourcen voraussetze. Das LG Berlin habe festgestellt, dass der Schuldner weder das eine noch das andere Kriterium erfüllt und es habe daher die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO nicht angewandt. Diese Annahme der Kammer, so der BGH, sei aber unzutreffend, wenn die Kriterien des Einsatzes von Personal und von Vermögen für selbstständig tätige natürliche Personen nicht zwingend erfüllt sein müssten. Das ist der Gegenstand der ersten Frage an den EuGH (ob also auch ohne Einsatz von Person und Sachmitteln/Vermögen in Fällen wie hier eine Niederlassung i.S.d. Art. 2 Nr. 10 EuInsVO 2015 zu bejahen sein könnte). Dann würde die selbstständige Tätigkeit im Inland allein die Vermutung rechtfertigen können, dort bestehe eine Niederlassung und dort läge das COMI. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte wäre dann zu bejahen, soweit der Schuldner die Vermutung nicht mit Tatsachen widerlegen könne. Das wiederum ggf. zu prüfen und festzustellen, sei Sache des Landgerichts (an das der Senat dann als Ergebnis der Rechtsbeschwerde zurückverweisen müsste, § 577 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 4 ZPO).
5. Werde die Frage, ob vorliegend eine „Niederlassung“ vorliege, vom EuGH verneint, sei mit einer zweiten Vorlagefrage um eine Antwort dahin nachzusuchen, ob nicht die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO greift, wonach der Ort der Ausübung des selbstständigen Tätigkeit (für sich allein) ausreicht, um die Vermutung des COMI an jenem Ort zu bejahen (und die internationale Zuständigkeit dort zu begründen). Erwägungsgrund 28 (Satz 1) EuInsVO 2015 stelle heraus, dass der Ort, den die Gläubiger als denjenigen wahrnehmen, von dem aus der Schuldner seine wirtschaftlichen Interessen verfolgt, „besonders berücksichtigt werden [soll]“. Hier sei die Aufsichtsratsfunktion des Schuldners nach außen erkennbar gewesen; der Ort privater Vermögensverwaltung sei für Gläubiger hingegen schwerer nachvollziehbar.
Bejahe der EuGH diese zweite Vorlagefrage, würde das COMI im Inland auch hier widerleglich vermutet mit derselben Notwendigkeit weiterer Prüfung durch das Landgericht wie hinsichtlich der ersten Frage (vgl. unter B III., 4. a.E.).
6. Bei der Verneinung beider Fragen durch den EuGH wäre zu fragen, ob in diesem Fall die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO 2015 heranzuziehen ist, ob also der Schuldner nicht unter die selbstständig oder freiberuflich tätigen natürlichen Personen (mit oder ohne Niederlassung im Inland) nach Unterabsatz 3 zu subsumieren ist, sondern unter die Gruppe „alle anderen Personen“ nach Unterabsatz 4 Satz 1. Hierfür spreche, dass die Unterabsätze 3 und 4 des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO aus Gründen der Rechtssicherheit für jede natürliche Person widerlegliche Vermutungen normieren, die das COMI der natürlichen Person und damit die internationale Zuständigkeit zum Gegenstand haben. Es könne ein Stufenverhältnis zwischen Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 und 4 EuInsVO bestehen, wonach Unterabsatz 1 der Vorschrift erst dann zu prüfen sei, wenn es an den Voraussetzungen der Unterabsätze 3 und 4 fehle.
7. Das Landgericht habe Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 EuInsVO nicht berücksichtigt, sondern Art 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 EuInsVO angewandt. Bejahte man die Voraussetzungen des Unterabsatzes 4 Satz 1, müsste das Landgericht zuerst den „gewöhnlichen Aufenthalt“ ermitteln (der strikt vom Wohnsitz zu unterscheiden ist, der der Determinierung durch nationales Recht der Wohnsitzstaaten unterliegt) und sodann anhand weiterer Tatsachen prüfen, ob die Vermutung des Unterabsatzes 4 widerlegt ist.
8. So oder so – der Beschluss des Landgerichts könne keinen Bestand haben. Der BGH wird also zurückverweisen mit der Maßgabe, entsprechend den Vorgaben des Senats weitere Tatsachenprüfungen anzustellen (vgl. § 577 Abs. 4 Satz 4 ZPO), wobei der BGH den Vorgaben des EuGH entsprechend seinerseits beschließen wird.


C.
Kontext der Entscheidung
I. Das Problem für Gläubiger besteht, wie in allen mit dem vorliegenden Fall vergleichbaren Konstellationen mit Zulässigkeitsfragen des Insolvenzantrags darin, dass das Eröffnungsverfahren ohne Sicherungsmaßnahmen eventuell Jahre dauert. Auch das ist sicher eine Motivation für Schuldner, den Verfahrensfortgang durch Rechtsbehelfe möglichst zu verhindern oder langfristig zu verzögern.
II. Der der Vorlageentscheidung des BGH zugrunde liegende Sachverhalt ist geradezu idealtypisch geeignet, das Verfahren für die Gläubiger unsicher zu machen, berücksichtigt man die vier Wohnungen des Schuldners in drei Staaten bzw. einer Collecitivité d'outre-mer Frankreichs. Vor diesem Hintergrund ist ein „Anker“ für die Vermutung der internationalen Zuständigkeit der inländischen Gerichte – und ggf. der örtlichen Zuständigkeit des AG Berlin-Charlottenburg – der Umstand, dass der Schuldner in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsvorsitzender einer Aktiengesellschaft in Mainz selbstständig tätig ist, wenn er auch vorliegend dazu wohl keine „klassische Niederlassung“ i.S.d. Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, weil er die Tätigkeit offenbar ohne den „Einsatz von Personal und Vermögenswerten“ entgegen dem Wortlaut der Definition ausübt. Der Begriff der „Niederlassung“ dient insbesondere der Beschreibung der Zulässigkeit von Partikular- bzw. Sekundärinsolvenzverfahren (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 EuInsVO sowie ErwGr 23 Satz 4 EuInsVO); vgl. auch ErwGr 27, wonach das Gericht zu prüfen hat, „ob sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen oder der Niederlassung des Schuldners“ in seinem Zuständigkeitsbereich befindet, damit es über seine Zuständigkeit in einem Hauptinsolvenzverfahren oder Sekundärinsolvenzverfahren entscheiden kann. Der Begriff der „Hauptniederlassung“ wird in Art. 2 EuInsVO nicht definiert, er dient wie der Sitz einer Gesellschaft oder der gewöhnliche Aufenthalt bei natürlichen Personen insbesondere der Abgrenzung zum „tatsächlichen Verwaltungssitz“ bzw. dem Ort, an dem der Schuldner tatsächlich der Verfolgung seiner Interessen nachgeht.
III. 1. Auf diesem Weg rückt der Ort des gewöhnlichen Aufenthaltsorts in den Mittelpunkt, von dem aus der Schuldner seine Aktivitäten für Gläubiger erkennbar ausübt. Terminologisch hat er mit dem Wohnsitz nichts zu tun, zumal es sich um einen autonom auszulegenden Begriff der EuInsVO handelt, auch wenn es um einen tatsächlichen Umstand geht. In der Literatur wird vertreten, jede natürliche Person könne nur einen einzigen gewöhnlichen Aufenthaltsort haben (vgl. zu der Thematik Mankowski/Müller/J. Schmidt-Mankowski, EuInsVO 2015, Art. 3 Rn. 119 ff.; vgl. Rn. 123 zur Irrelevanz des „schlichten“ Aufenthaltswechsels in einen anderen Staat, jeweils m.w.N.).
2. Wie ist dann aber ein Sachverhalt zu beurteilen, wie er hier vorliegen könnte, wenn der Schuldner seine beruflichen Aufgaben sowie seine Vermögensverwaltung „wechselweise“ von seinen vier Wohnungen in mehreren Weltgegenden aus erledigt und das gar turnusmäßig jeweils etwa drei Monate im Jahr von jeder Wohnung aus, also ohne klaren präferierten Wohn-/Aufenthaltsschwerpunkt auf längere Dauer? Zu Aufsichtsratssitzungen in Mainz könnte er auch im Flugzeug aus den USA bzw. der Karibik oder Monaco anreisen, zumal § 110 Abs. 2 Satz 1 AktG gesetzlich nur zwei Sitzungen pro Kalenderhalbjahr vorsieht. Auf die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten ist nicht weiter einzugehen, ebenso nicht auf die Teilnahme an Hauptversammlungen, die ebenfalls zunehmend virtuell stattfinden. Vorliegend wird man aktuell zum COMI des Schuldners in tatsächlicher Hinsicht mangels hinreichender Sachverhaltsfeststellungen nur spekulieren können, wenn auch die selbstständige Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender einer inländischen AG ein Indiz für das COMI im Inland sein mag.
3. Wenn man nur einen einzigen gewöhnlichen Aufenthaltsort zulässt, geht die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO in den vorstehend unter 2. aufgeführten (Ausnahme-)Fällen ins Leere, aber auch diejenige des Unterabsatzes 3, da der Schuldner dann seine Hauptniederlassung im Jahresablauf wiederholt wechselt. Er kann am jeweiligen Ort seiner Tätigkeit einen Büroservice oder andere Dienstleister beauftragt haben (oder auch nur weltweit einen einzigen Servicedienst), die ihm hinsichtlich seiner Aufsichtsratstätigkeit (mit Zustimmung der AG und mit geeigneter Vertragsgestaltung zum Schutz der AG) oder seiner Eigenschaft als Gesellschafter monegassischer Gesellschaften bzw. seiner Vermögensverwaltung insgesamt zur Hand gehen. Wenn er nach außen verlautbart, von wo aus er jeweils tätig ist, sollte das für die Annahme des gewöhnlichen Aufenthaltsorts über eine Zeit des Jahres ausreichen.
Bei anderer Sichtweise wäre in solchen Fällen nirgendwo in der Union verlässlich das COMI zu bestimmen; ob in Monaco oder Kalifornien ein Insolvenzstandort (i.S. eines COMI) bestünde, würde außerdem vom Recht Monacos bzw. dem US Bankruptcy Code abhängen.
IV. Daher ist bei Konstellationen wie hier von dem bei Insolvenzantrag zweckmäßig zu bestellenden Gutachter festzustellen, von wo aus der Schuldner seinen hauptsächlichen wirtschaftlichen Interessen nachzugehen scheint und sind die dafür sprechenden Umstände darzulegen. Das Insolvenzgericht muss entscheiden, ob diese Tatsachen nach Art. 3 EuInsVO hinreichen, die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte zu bejahen. Die örtliche Zuständigkeit folgt dann aus § 3 InsO i.V.m. den §§ 12, 13 ZPO. Bei jeder der vom BGH gestellten Vorlagefragen ist unabhängig von der Antwort des EuGH zurückzuverweisen und dem Landgericht weitere Aufklärung des Sachverhalts dahin aufzuerlegen, von wo aus der Schuldner seine hauptsächlichen Interessen nach außen erkennbar wahrgenommen hat.


D.
Auswirkungen für die Praxis
I. Es spricht sehr viel dafür, mit dem BGH von einem Stufenverhältnis auszugehen und zur Feststellung der internationalen Zuständigkeit zunächst die widerleglichen Vermutungen des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 EuInsVO 2015 zu prüfen und erst danach Unterabsatz 1 Satz 2. Hierdurch wird eine folgerichtige Prüfungsreihenfolge sämtlicher Anknüpfungspunkte für die internationale Zuständigkeit ohne inneren Widerspruch geschaffen.
II. Dafür spricht auch, dass auf diesem Wege eine einfachere Bestimmung des COMI für das Insolvenzgericht und das Beschwerdegericht ermöglicht wird. Damit dürften die Zulässigkeitsprüfung und das Eröffnungsverfahren insgesamt beschleunigt und die Zeit bis zu Sicherungsmaßnahmen verkürzt werden. Andernfalls muss befürchtet werden, dass sich die Vermögenslage des Schuldners zum Nachteil der Gläubiger bis zur Eröffnung oder bis zu Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO deutlich verschlechtert.
III. Vorliegend ist davon auszugehen, dass der EuGH vielleicht 2024 entscheidet, ebenso der BGH sodann über die Rechtsbeschwerde. Dann sind etwa fünf Jahre zwischen Insolvenzantrag und der Entscheidung über die Rechtsbeschwerde verstrichen. Bis das Beschwerdegericht nach Zurückverweisung die nötige Sachverhaltsaufklärung vorangetrieben und seinerseits erneut über die sofortige Beschwerde entschieden hat, vergeht weitere Zeit, ohne die das Insolvenzeröffnungsverfahren voranschreitet. Am Ende mag dann eine weitere Zurückverweisung an das AG Berlin-Charlottenburg stehen, das ggf. seinerseits aufgrund Verneinung seiner örtlichen Zuständigkeit an das AG Mainz/Insolvenzgericht nach § 4 InsO, § 281 ZPO (dazu Kayser/Thole-Sternal, HK-InsO, 2023, § 3 Rn. 24 bis 26 m.w.N.) verweist.
Gläubigern dürfte eine solch lange Dauer der Zulässigkeitsprüfung im Eröffnungsverfahren nur schwerlich zu vermitteln sein; nach fünf Jahren und länger mag zugleich häufig das Interesse am Insolvenzverfahren zur Realisierung von Insolvenzforderungen deutlich geschwunden sein.



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