juris PraxisReporte

Autoren:Dr. Benedikt M. Quarch, M.A.,
Stella Thomas, M.A., Ass. iur.
Erscheinungsdatum:15.09.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 812 BGB, § 134 BGB, § 814 BGB, § 819 BGB, § 818 BGB, § 823 BGB, § 284 StGB, EGV 593/2008, EGV 864/2007, 12016E056, 12016E288, 12016E258, EUV 1215/2012
Fundstelle:jurisPR-IWR 5/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Ansgar Staudinger, Universität Bielefeld
Zitiervorschlag:Quarch/Thomas, jurisPR-IWR 5/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Der Tag, an dem Malta versuchte, die Vollstreckung zu vereiteln

I. Einleitung

Immer wieder wird man in den Medien mit der Klagewelle gegen Online-Casinos konfrontiert.1 Dabei versuchen die Spieler selbst oder gewerblich handelnde Zessionare – mit Erfolg2 –, die verspielten Einsätze von den Glücksspielanbietern zurückzuverlangen. Von dieser Entwicklung offenbar beeindruckt, hat die maltesische Regierung jüngst reagiert, indem sie die Vollstreckung ausländischer Urteile auf ihrem Grund und Boden verhindert, um die in Malta ansässigen Glücksspielanbieter vor einem Zugriff der Gläubiger zu schützen. Dieses Gesetz sorgt nun in Anbetracht der Missachtung unionsrechtlicher Vorgaben und der Umgehung des Spielerschutzes in Deutschland für erhebliches Aufsehen.3 Aus juristischer Sicht stellen sich vornehmlich zwei Fragen: Wird das Gesetz Bestand haben? Und wenn ja, kann es unionsrechtlich tatsächlich zur Anwendung kommen? Dessen ungeachtet, wurde das Gesetz bereits durch das erste maltesische Gericht angewandt.4

II. Historischer und rechtlicher Hintergrund

Streitgegenstand der Spielerklagen sind bereicherungsrechtliche Ansprüche auf Rückerstattung der Verlustbeträge sowie Schadensersatzansprüche auf Ausgleich der erlittenen Vermögensschäden. Sie stützen sich materiell-rechtlich auf das Verbot von Online-Glücksspiel, das in Deutschland seit 2011 mit Ausnahme von Schleswig-Holstein in § 4 Abs. 4 GlüStV a.F. normiert war. Die Vermittlung von Lotterien sowie die Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten war nach § 4 Abs. 5 GlüStV a.F. mit einer behördlichen Erlaubnis zulässig. Seit 2021 sind Online-Casinos und Sportwetten im Internet nach § 4 Abs. 4 GlüStV n.F. mit Lizenz möglich und im Übrigen untersagt. Zahlreiche Anbieter haben dem zuwider zwischen 2011 und 2021 Online-Glücksspiel und Sportwetten ohne die nötige Konzession in Deutschland angeboten.

Die Klagen wurden in Deutschland und damit nicht am Sitz der Anbieter erhoben. Im Rahmen der Zulässigkeit ist deshalb die Frage der internationalen Gerichtszuständigkeit von übergeordneter Bedeutung. Diese beurteilt sich nach den Regeln der Brüssel Ia-VO. Vorrangig heranzuziehende Gerichtsstandklauseln gemäß Art. 25 Abs. 1 EuGVVO aus den AGB der Anbieter werden wegen Verstoßes gegen die Klausel-Richtlinie als unwirksam angesehen.5 Für die Spieler ist zunächst der Verbrauchergerichtsstand aus Art. 18 Abs. 1 EuGVVO eröffnet.6 Dieser steht klagenden (gewerblichen) Zessionaren in aller Regel nicht zur Verfügung,7 auch wenn an dieser Auffassung jüngst gezweifelt werden mag.8 Abgesehen davon bejahen die Gerichte für die bereicherungsrechtlichen Rückgewähransprüche einen Vertragsgerichtsstand entweder aus Art. 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b Spiegelstrich 2 EuGVVO9 oder Art. 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EuGVVO10 am Wohnsitz der Spieler. Für die Schadensersatzansprüche werden gemäß Art. 7 Abs. 1 Nr. 2 EuGVVO ebenfalls die Gerichte am Wohnsitz der Kläger als zuständig angesehen.11

Die Begründetheit bemisst sich bei Klagen der Spieler12 und der Zessionare13 nach dem Recht des Wohnsitzes der Spieler aus Art. 6 Abs. 1 Buchst. b Rom I-VO bzw. Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO. In Deutschland steht den Klägern ein Anspruch auf Rückerstattung der Glücksspielverluste im Wege der condictio indebiti nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB zu. Die Leistung der Spieleinsätze als vermögenswerten Vorteil erfolgte in Ansehung der nach § 134 BGB wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot aus § 4 Abs. 4 GlüStV a.F. nichtigen Glücksspielverträge ohne Rechtsgrund. Dasselbe gilt für das Angebot von Sportwetten ohne die erforderliche behördliche Konzession, § 4 Abs. 5, Abs. 4 GlüStV a.F.14 Ein beidseitiger Gesetzesverstoß ist hier nicht notwendig, da es mit dem Sinn und Zweck des Verbots aus § 4 Abs. 4 GlüStV a.F. nicht vereinbar wäre, die durch das Rechtsgeschäft getroffene rechtliche Regelung hinzunehmen und bestehen zu lassen.15 An dieser Beurteilung ändert weder die Neuregelung des GlüStV16 noch die Duldung des Glücksspiels seitens der nationalen Behörden etwas.17 Außerdem ist § 4 Abs. 4 GlüStV nicht wegen eines Verstoßes gegen die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 AEUV unionsrechtswidrig,18 da die Verbote dem Jugendschutz sowie der Bekämpfung der Spielsucht und deren Begleitkriminalität als legitime Gemeinwohlziele dienen und Staaten die Ausgestaltung des Glücksspiels im Internet in der Hand haben.19 Der Anspruch ist zuletzt weder aufgrund der Einrede aus § 814 BGB noch aus § 817 Satz 2 BGB ausgeschlossen20. Die Beklagten können insoweit nicht substantiiert darlegen und beweisen, dass den Spielern die Illegalität des Angebots sowie die Nichtigkeit des Vertrages bewusst war und ihnen deshalb ein vorsätzliches Handeln anzulasten ist. Die Einrede der Entreicherung aus § 818 Abs. 3 BGB wegen Gewinnausschüttungen an andere Spieler ist den Anbietern wegen der Kenntnis der Illegalität des Glückspielangebots wegen § 819 Abs. 1, § 818 Abs. 4 BGB versagt.21

Daneben wird den Spielern durch die Vermögensschädigung auch ein Schadensersatzanspruch wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz aus § 823 Abs. 2 BGB zugestanden.22 Als verletztes Schutzgesetz wird dabei zum einen § 4 Abs. 4 GlüStV a.F. angeführt, der aufgrund der in § 1 GlüStV a.F. aufgeführten Schutzzwecke vor allem Allgemeininteressen, aber gerade auch dem Schutz einzelner Spieler vor den genannten Gefahren des Glücksspiels dienen soll. Zum anderen verstoßen die Glücksspiel- und Sportwettenanbieter (ohne die nötige Konzession) durch die Veranstaltung von Glücksspielen ohne die nötige Erlaubnis gegen das Schutzgesetz des § 284 Abs. 1 StGB. Einreden aus § 242 BGB können die Anbieter mangels besonderer Schutzwürdigkeit nicht erheben.23

III. Entwicklungen in der maltesischen Gesetzeslandschaft

Angesichts dieser überwiegend erfolgreichen Verfahren gegen unter anderem maltesische Glücksspielanbieter hat sich der Staat Malta zur Ergreifung von rechtshistorisch einmaligen Maßnahmen veranlasst gesehen. So hat die Legislative am 12.06.2023 ein Gesetz beschlossen, das die Vollstreckung gegen Glücksspielanbieter mit Sitz in Malta verhindern soll24.

Konkret hat das Parlament den Gaming Act25 (das maltesische Glücksspielgesetz) durch das Änderungsgesetz Nr. 55/202326 um einen Art. 56A ergänzt, der festlegt, dass als Teil des Grundsatzes der öffentlichen Ordnung gegen einen Lizenzinhaber, dessen ehemalige Führungskräfte und/oder Schlüsselpersonen eines Lizenzinhabers wegen Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Erbringung einer Glücksspieldienstleistung oder gegen einen Spieler wegen des Erhalts einer solchen Glücksspieldienstleistung keine Klage erhoben werden kann, wenn ein solches Vorgehen der Rechtmäßigkeit der Bereitstellung von Glücksspieldiensten in oder von Malta aufgrund einer von der maltesischen Behörde ausgestellten Lizenz oder der Rechtmäßigkeit einer rechtlichen oder natürlichen Verpflichtung, die sich aus der Bereitstellung solcher Glücksspieldienste ergibt, widerspricht bzw. diese untergräbt und sich auf eine zugelassene Tätigkeit bezieht, die im Sinne des Gaming Acts und anderer anwendbarer Regulierungsinstrumente rechtmäßig ist. Außerdem haben maltesische Gerichte wegen des Grundsatzes der öffentlichen Ordnung gemäß 56A Unterartikel (b) die Anerkennung und/oder die Vollstreckung ausländischer Urteile und/oder Entscheidungen in Malta, die aufgrund einer Klage der in Unterartikel (a) genannten Art ergangen sind, zu verweigern.27

Das Angebot von Online-Glücksspiel ist nach Art. 3 Abs. 1 der Remote Gaming Regulations28 in Malta mit einer Lizenz zulässig. Gemäß Art. 13 Gaming Act ist dementsprechend nur das unlizenzierte Angebot von Online-Glücksspielen rechtswidrig. Für alle Verluste, die Spieler bis 2021 im Rahmen des Glücksspiels erlitten haben, als Online-Glücksspiel in Deutschland schlechthin verboten, in Malta aber mit einer maltesischen Lizenz erlaubt war, könnte die Vollstreckung der Titel nach dem neuen Art. 56A Unterartikel (b) Gaming Act abgewehrt werden.

IV. Europarechtliche Rahmenbedingungen und Würdigung

Als Mitglied der Europäischen Union ist Malta an die Rechtsakte der Union gebunden. Europäisches Primärrecht entfaltet unmittelbare Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten ebenso wie diverse Sekundärrechtsakte. Insbesondere Verordnungen sind gemäß Art. 288 Unterabs. 2 AEUV allgemein verbindlich. Die Unionsstaaten müssen eine Verordnung unbedingt und vorbehaltslos beachten29 und können nicht durch innerstaatliches Recht Ausnahmen oder Befreiungen von einer Verordnung normieren.30 Nach Auffassung des EuGH „geht es nicht an, dass ein Mitgliedstaat die Bestimmungen einer Verordnung unvollständig anwendet oder unter ihnen eine Auswahl trifft, so dass er bestimmte Regelungen des Gemeinschaftsrechts vereitelt, gegen die er im Rechtsetzungsverfahren Vorbehalte angemeldet oder Einwände vorgebracht hat, oder die nach seiner Auffassung gewissen nationalen Interessen zuwiderlaufen.“31 Das Unionsrecht genießt vor der nationalen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten Anwendungsvorrang.32 Rechtsakte, die gegen Unionsrecht verstoßen, sind deshalb nicht eo ipso nichtig, müssen im Streitfall jedoch unangewendet bleiben und können im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 f. AEUV aufgrund ihrer Unionsrechtswidrigkeit angegriffen werden.33

1. Europarechtswidrigkeit des Gesetzes

Es stellt sich die Frage, ob der neue Art. 56A Gaming Act im Lichte des Unionsrechts überhaupt Bestand haben kann oder ob sich die Norm als europarechtswidrig darstellt. Die Regelung steht insbesondere mit den Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (kurz EuGVVO oder Brüssel Ia-Verordnung) in Konflikt.

a) Widerspruch zur Anerkennung und Vollstreckung nach der EuGVVO

Art. 36 Abs. 1 EuGVVO bestimmt, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. Darüber hinaus sind gemäß Art. 39 EuGVVO in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidungen, die in diesem Mitgliedstaat vollstreckbar sind, in den anderen Mitgliedstaaten vollstreckbar, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf. Zur Durchführung der Vollstreckung können sich die Gläubiger unmittelbar an das im Vollstreckungsstaat zuständige Vollstreckungsorgan wenden, ohne dass es eines vorherigen Exequaturverfahrens bedarf.34 Vor Durchführung konkreter Vollstreckungsmaßnahmen wird im ersuchten Staat (Art. 2 Buchst. e EuGVVO) lediglich geprüft, ob der zeitliche und räumliche Anwendungsbereich der Brüssel Ia-VO eröffnet ist, eine Mitgliedstaatenentscheidung i.S.v. Art. 36 EuGVVO i.V.m. Art. 2 Buchst. a EuGVVO vorliegt, diese Entscheidung im Ursprungsstaat (Art. 2 Buchst. d EuGVVO) vollstreckbar ist und alle notwendigen Bescheinigungen und die Entscheidung selbst gemäß Art. 43 EuGVVO an den Schuldner zugestellt wurden.35

Auf Antrag (Art. 36 Abs. 2, 46 EuGVVO) kann ein Versagungsgrund aus Art. 45 EuGVVO festgestellt werden, der nach Art. 45 Abs. 1, 46 EuGVVO die Anerkennung und Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung hindert. Ansonsten werden im Vollstreckungsstaat weder Versagungsgründe der EuGVVO geprüft, noch beurteilt das ersuchte Vollstreckungsorgan in irgendeiner Weise die Vollstreckbarkeit nach dem nationalen Recht.36 Die Vollstreckung darf im Zielstaat deshalb nicht mit der Begründung versagt werden, sie verstoße gegen ein Vollstreckungshindernis des nationalen Rechts. Dies entspricht auch dem Telos der EuGVVO, die ausweislich des Erwägungsgrundes 26 Satz 3 eine Gleichbehandlung der von den Gerichten eines Mitgliedstaats erlassenen Entscheidung mit einer im ersuchten Mitgliedstaat ergangen Entscheidung bezweckt, womit die ausländische Gerichtsentscheidung ohne weitere Prüfung einer inländischen gleichgesetzt werden soll.37 Mithin kommt dem Staat Malta keine Befugnis zu, in Ergänzung der Bestimmungen der EuGVVO mittels nationalen Gesetzes festzulegen, welche ausländischen Entscheidungen im Inland vollstreckbar sind. Nur für das Vollstreckungsverfahren und Rechtsbehelfsmöglichkeiten findet gemäß Art. 41 EuGVVO ergänzend das nationale Recht des ersuchten Staates Anwendung,38 womit den Vollstreckungsstaaten insbesondere Regelungen zur Zuständigkeit, Formalitäten und Fristen der Antragstellung, Vollstreckungsarten und -mitteln, Kosten oder konkreten Rechtsschutzmöglichkeiten verbleiben.39 Diese Bestimmungen müssen ihrerseits zum einen dem Äquivalenzprinzip entsprechen, dürfen also nicht ungünstiger geregelt sein als das Verfahren zur Vollstreckung rein innerstaatlicher Fälle. Andererseits müssen sie dem effet utile genügen, womit eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren darf.40

Der neu eingeführte Art. 56A Gaming Act ist bereits deshalb unionsrechtswidrig, da er einen ausländischen Titel entgegen Art. 39 EuGVVO i.V.m. Art. 2 Buchst. a EuGVVO im Inland für nicht vollstreckbar erklärt und damit gegen eine allgemein verbindliche und unabdingbare Rechtsordnung der EU verstößt. Die Regelung stellt keine Ausgestaltung des Vollstreckungsverfahrens dar, sondern betrifft die Vollstreckbarkeit eines Titels, die sich gemäß Art. 39 EuGVVO neben der EuGVVO allein nach dem Recht des Entscheidungsstaates richtet. Außerdem besteht eine Spannung zwischen Art. 56A Unterabsatz (b) Gaming Act und dem Äquivalenzprinzip. Die Bestimmung verhindert die Vollstreckung ausländischer Urteile gegen Glücksspielanbieter mit maltesischer Glücksspiellizenz. Zwar erlaubt die Regelung in Malta auch keine Klagen gegen Online-Glücksspielanbieter mit maltesischer Konzession. Eine Ungleichbehandlung ergibt sich aber daraus, dass de facto das maltesische Recht zur Glücksspielregulierung gegenüber anderen mitgliedstaatlichen Regelungen als höherrangig behandelt wird, indem es allein eine Zulassung in Malta als ausschlaggebend erachtet und Verbote in anderen Staaten ignoriert und damit entwertet.41 Zuletzt verletzt die Regelung das Effizienzgebot, da sie die Durchsetzung der Vorgaben der Brüssel Ia-VO in Bezug auf die Vollstreckung ausländischer Urteile gegen Online-Glücksspielanbieter unmöglich macht und damit eine Durchsetzung der Bestimmungen der EuGVVO vereitelt.

b) Rechtswidrige Ausgestaltung des ordre public

An dieser direkten Verletzung der Brüssel Ia-VO ändert auch der Umstand nichts, dass die maltesische Legislative durch Art. 56A Unterabsatz (b) Gaming Act nicht unmittelbar die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile gegen Online-Glücksspielanbieter untersagt, sondern über die Ausgestaltung des ordre public einen allgemeinen Versagungsgrund nach Art. 45 Abs. 1 Buchst. a EuGVVO zu normieren versucht. Der ordre public-Vorbehalt stellt eine Ausnahmevorschrift dar, die sehr eng auszulegen ist und nur hilfsweise in absoluten Sonderfällen zur Korrektur sonst nicht hinnehmbarer Widersprüche zu tragenden Grundwertungen des Anerkennungsstaates herangezogen werden kann.42 Die öffentliche Ordnung wird aus Wertmaßstäben der Mitgliedstaaten geformt,43 aus Grundprinzipien einer Rechtsordnung44 und wesentlichen Rechtsgrundsätzen.45

Ein solches Art. 56A Unterabsatz (b) Gaming Act zugrunde liegendes, tragendes Prinzip der Rechtsordnung, dem die Anerkennung von Urteilen gegen Online-Glücksspielanbieter zuwiderlaufen könnte, ist nicht erkennbar. Die Norm zielt auf den Schutz eines in Malta wesentlichen Wirtschaftszweiges ab. Dem Gesetz liegt kein Wertmaßstab zugrunde, der in der maltesischen Rechtsordnung tiefgreifend verankert ist. Dies zeigt sich besonders an der kurzen Dauer des Gesetzgebungsprozesses von gerade einmal wenigen Wochen. In dieser Zeit mag noch kein tragendes Grundprinzip des Schutzes eigener Wirtschaftszweige begründet worden sein. Vielmehr wurde das Gesetz aufgrund der in Mitteleuropa in Gang gesetzten Klagewelle erlassen, um agierende Glücksspielanbieter zu schützen und so die künftige Ansiedlung von Glücksspielunternehmen sicherzustellen. Dies mag zwar ein legitimes Interesse des Staates darstellen, es genügt aber nicht zur künstlichen Bildung eines tragenden Prinzips, das in Ansehung der Übertragung von nationaler Souveränität an die EU Vorzug verdienen würde. Schließlich werden auch andere Mitgliedstaaten durch diverse Unionsregeln in die Pflicht genommen, obwohl des den nationalen Interessen nicht in jeder Hinsicht uneingeschränkt entspricht. Darüber hinaus besitzt Art. 56A Unterabsatz (b) Gaming Act gerade keinen Ausnahmecharakter, der zum Schutz besonderer Interessen unter bestimmten Umständen im Einzelfall korrigierend eingreifen soll. Vielmehr verweigert er schlechthin jegliche Vollstreckung ausländischer Entscheidungen gegen Online-Glücksspielanbieter, sofern diese eine maltesische Glücksspiellizenz innehaben. Damit steht auch die von Malta gewählte Konstruktion, die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile gegen Online-Glücksspielanbieter im Wege der Ausgestaltung des ordre public zu verhindern, in elementarem Widerspruch zum Unionsrecht.

2. Künftige Rechtsanwendung

Neben der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Norm stellt sich die Frage, ob die Norm im Falle ihrer Fortgeltung überhaupt angewendet wird, also ob die Anerkennung und Vollstreckung tatsächlich nach Art. 45 Abs. 1 Buchst. a EuGVVO aufgrund von Art. 56A Gaming Act versagt werden kann bzw. eine Nichtanerkennung in Malta einer gerichtlichen Nachprüfung Stand halten würde.

Art. 45 Abs. 1 Buchst. a EuGVVO besagt dem Wortlaut nach, dass die Anerkennung eines Urteils eines Mitgliedstaates versagt wird, wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des ersuchten Mitgliedstaats offensichtlich widersprechen würde. Was der öffentlichen Ordnung unterliegt, legt das nationale Recht fest.46 Trotz der Orientierung an der nationalen Rechtsordnung ist der Begriff der öffentlichen Ordnung aufgrund des Ausnahmecharakters der Norm international im Kontext des unionsrechtlichen Rahmens auszulegen.47 Außerdem erfasst er als Auffang- und Ausnahmetatbestand nicht sämtliche Abweichungen vom Verfahrens- oder materiellen Recht des Anerkennungsstaates, sondern verhindert eine Anwendung der Brüssel Ia-VO nur in solchen Fällen, in denen die Anerkennung offensichtlich untragbar wäre. Auch wenn der EuGH den Inhalt des ordre public eines Mitgliedstaates nicht selbst definieren kann, so wacht er im Rahmen seiner Auslegungskompetenz für eine Verordnung über die Grenzen, innerhalb derer sich ein Mitgliedstaat auf diesen Begriff stützen darf.48

Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass ein national ausgestalteter ordre public, der mit einer europäischen Verordnung in derart eklatantem Widerspruch steht und deren Wertungen und Zielsetzungen untergräbt wie Art. 56A Unterabsatz (b) Gaming Act, künftig überhaupt herangezogen wird. Bei der Prüfung eines Versagungsgrundes nach Art. 45 Abs. 1 Buchst. a EuGVVO könnte argumentiert werden, dass die Norm zwar ein nationales Anerkennungs- und Vollstreckungsverbot festlegt und eine Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung nach maltesischen Recht rechtswidrig ist. Dennoch widerspricht der Verstoß aber im Lichte des unionsrechtlichen Rahmens nicht der öffentlichen Ordnung. Eine Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung entgegen Art. 56A Unterabsatz (b) Gaming Act verletzt kein tragendes Grundprinzip der maltesischen Rechtsordnung, so dass die Durchsetzung des Urteils in Malta auch nicht als solchermaßen unerträglich anzusehen wäre, dass sie einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung begründen könnte. Es handelt sich um eine „bloße“ Rechtswidrigkeit nach nationalem Recht, die aufgrund des allgemeinverbindlichen Unionsrechts wegen der Übertragung von Rechtsetzungskompetenz an die EU von den Mitgliedstaaten hinzunehmen ist.

V. Ausblick

Angesichts dieser klaren Rechtslage ist nicht davon auszugehen, dass das Änderungsgesetz tatsächlich zur Anwendung kommen darf, geschweige denn in Kraft bleibt. Bis jedoch erfolgreich ein Vertragsverletzungsverfahren geführt wird, können Jahre vergehen.49 Da das Gesetz bereits Gegenstand einer unionsrechtlichen Beschwerde ist, die kürzlich der Europäischen Kommission vorgelegt wurde, ist – wenn auch die Aufhebung nicht unmittelbar naht – ein klärendes Statement zur rechtlichen Einschätzung des Gesetzes alsbald zu erwarten.50


Fußnoten


2)

OLG Dresden, Urt. v. 27.10.2022 - 10 U 736/22; OLG München, Hinweisbeschl. v. 04.08.2022 - 18 U 538/22; OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22; OLG Hamm, Urt. v. 21.03.2023 - I-21 U 116/21; OLG Frankfurt, Hinweisbeschl. v. 08.04.2022 - 23 U 55/21; LG Essen, Versäumnisurt. v. 19.05.2022 - 6 O 301/21; LG Konstanz, Versäumnisurt. v. 02.02.2022 - D 2 O 287/21; OGH Wien, Urt. v. 17.02.2022 - 9 Ob 79/21; OGH Wien, Beschl. v. 27.04.2022 - 9 Ob 26/22x m.w.N.

5)

EuGH, Urt. v. 18.11.2020 - C-519/19 Rn. 58 ff.; EuGH, Urt. v. 09.11.2010 - C-137/08 Rn. 53 f; LG Köln, Urt. v. 19.10.2021 - 16 O 614/20; LG Frankfurt, Urt. v. 21.12.2022 - 2-13 O 258/21.

6)

OLG Dresden, Urt. v. 27.10.2022 - 10 U 736/22; OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22.

7)

EuGH, Urt. v. 19.01.1993 - C-89/91 Rn. 23; EuGH, Urt. v. 25.01.2018 - C-498/16 Rn. 43.

8)

LG Essen, Urt. v. 05.07.2023 - 16 O 235/22.

9)

LG Saarbrücken, Beschl. v. 15.07.2022 - 7 O 86/21.

10)

LG Frankfurt, Urt. v. 21.12.2022 - 2-13 O 258/21; LG Paderborn, Urt. v. 08.07.2021 - 4 O 3236/20; LG Konstanz, Versäumnisurt. v. 02.02.2022 - D 2 O 287/21; LG Düsseldorf, Urt. v. 13.09.2022 - 5 O 241/21.

11)

OGH Wien, Urt. v. 22.06.2023 - 10 Ob 56/22s; OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22; LG Hamburg, Urt. v. 20.03.2023 - 301 O 92/21; LG Heilbronn, Urt. v. 10.02.2023 - We 6 O 345/21; LG Frankfurt, Urt. v. 21.12.2022 - 2-13 O 258/21; LG Düsseldorf, Urt. v. 13.09.2022 - 5 O 241/21; LG Meiningen, Urt. v. 26.01.2021 - 2 O 616/20.

12)

OLG Dresden, Urt. v. 27.10.2022 - 10 U 736/22; OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22.

13)

LG Frankfurt, Urt. v. 21.12.2022 - 2-13 O 258/21; LG Düsseldorf, Urt. v. 13.09.2022 - 5 O 241/21; LG Meiningen, Urt. v. 26.01.2021 - 2 O 616/20.

14)

Dazu auch Will, NVwZ 2023, 865.

15)

OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22; OLG Hamm, Urt. v. 21.03.2023 - I-21 U 116/21.

16)

OLG Frankfurt, Hinweisbeschl. v. 08.04.2022 - 23 U 55/21; OLG München, Hinweisbeschl. v. 04.08.2022 - 18 U 538/22.

17)

OLG Dresden, Urt. v. 27.10.2022 - 10 U 736/22.

18)

OLG Dresden, Urt. v. 27.10.2022 - 10 U 736/22; OLG Koblenz, Urt. v. 03.07.2019 - 9 U 1359/18; OLG München, Hinweisbeschl. v. 04.08.2022 - 18 U 538/22; OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22; OLG Frankfurt, Hinweisbeschl. v. 08.04.2022 - 23 U 55/21.

19)

EuGH, Urt. v. 08.09.2010 - C-316/07, 358, 359, 360, 409 Rn. 88 ff.; BVerwG, Urt. v. 26.10.2017 - 8 C 14/16.

20)

OLG Dresden, Urt. v. 27.10.2022 - 10 U 736/22; OLG München, Hinweisbeschl. v. 04.08.2022 - 18 U 538/22; OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22; OLG Frankfurt, Hinweisbeschl. v. 08.04.2022 - 23 U 55/21; OLG Hamm, Urt. v. 21.03.2023 - I-21 U 116/21.

21)

OLG Dresden, Urt. v. 27.10.2022 - 10 U 736/22; OLG Köln Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22; OLG Hamm, Urt. v. 21.03.2023 - I-21 U 116/21.

22)

OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22.

23)

OLG Köln, Urt. v. 31.10.2022 - 19 U 51/22; OLG Frankfurt, Hinweisbeschl. v. 08.04.2022 - 23 U 55/21; OLG München, Hinweisbeschl. v. 04.08.2022 - 18 U 538/22; OLG Hamm, Urt. v. 21.03.2023 - I-21 U 116/21.

25)

Online abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=NIM:202103956, abgerufen am 06.09.2023.

26)

Online abrufbar unter https://parlament.mt/media/122833/act-xxi-gaming-amendment-act.pdf, abgerufen am 06.09.2023.

27)

Freie Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche.

28)

Online abrufbar unter https://legislation.mt/eli/cap/583/eng/pdf, abgerufen am 06.09.2023.

29)

Vgl. EuGH, Urt. v. 07.02.1973 - C-39/72 Rn. 14 ff.

30)

EuGH, Urt. v. 13.02.1979 - C-101/78 Rn. 3 ff; Geismann in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 288 Rn. 34.

31)

EuGH, Urt. v. 07.02.1973 - C-39/72 Rn. 4.

32)

Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 1 AEUV Rn. 18.

33)

Karpenstein in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 258 AEUV Rn. 29, 61 ff; Ehricke in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 258 AEUV Rn. 34.

34)

Stadler/Krüger in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 39 EuGVVO Rn. 1.

35)

Dörner in: Saenger, ZPO, Art. 39 Rn. 3.

36)

Dörner in: Saenger, ZPO, Art. 39 Rn. 3.

37)

Neumayr in: BeckOK ZPO, Art. 39 Rn. 30a.

38)

Neumayr in: BeckOK ZPO, Art. 41 Rn. 6.

39)

Neumayr in: BeckOK ZPO, Art. 41 Rn. 4, 9.

40)

EuGH, Urt. v. 14.03.2013 - C-415/11 Rn. 50 ff; vgl. EuGH, Urt. v. 26.10.2006 - C-168/05 Rn. 24; EuGH, Urt. v. 06.10.2009 - C-40/08 Rn. 38; Gottwald in: MünchKomm ZPO, Art. 41 Brüssel Ia-VO Rn. 1.

42)

Stadler/Krüger in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 45 EuGVVO Rn. 3.

43)

Dörner in: Saenger, ZPO, Art. 45 EuGVVO Rn. 2.

44)

Gottwald in: MünchKomm ZPO, Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 12.

45)

Stadler/Krüger in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 45 EuGVVO Rn. 3.

46)

Gottwald in: MünchKomm ZPO, Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 12.

47)

Gottwald in: MünchKomm ZPO, Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 12.

48)

EuGH, Urt. v. 23.10.2014 - C-302/13); Stadler/Krüger in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 45 EuGVVO Rn. 3.

49)

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geht von einer durchschnittlichen Verfahrensdauer von 20 Monaten aus.


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