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Anmerkung zu:EuGH Große Kammer, Urteil vom 21.12.2023 - C-281/22
Autor:Andreas Pfister, RA
Erscheinungsdatum:04.03.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 184 BGB, § 3 EUStAG, EUV 2017/1939
Fundstelle:jurisPR-StrafR 5/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Mayeul Hiéramente, RA und FA für Strafrecht
Zitiervorschlag:Pfister, jurisPR-StrafR 5/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Gerichtliche Überprüfung grenzüberschreitender Ermittlungsmaßnahmen der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA)



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Die Kontrolle grenzüberschreitender Ermittlungsmaßnahmen im Mitgliedstaat des unterstützenden Delegierten Europäischen Staatsanwalts, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats einer richterlichen Genehmigung bedürfen, darf sich nur auf Gesichtspunkte der Vollstreckung beziehen.
2. Gerichtliche Kontrolle der Anordnung und Begründung der Maßnahme erfolgt ausschließlich im Mitgliedstaat des betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts.
3. Ist die zugewiesene Ermittlungsmaßnahme mit einem schwerwiegenden Eingriff in die in der Grundrechtecharta garantierten Rechte der betroffenen Person verbunden, muss die Maßnahme einer vorherigen gerichtlichen Kontrolle im Mitgliedstaat des betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts unterliegen.



A.
Problemstellung
Art. 31 der VO (EU) 2017/1939 (im Folgenden: EUStA-VO) regelt die Zusammenarbeit der Delegierten Europäischen Staatsanwälte bei grenzüberschreitenden Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft (im Folgenden: EUStA). Erfordert die Ermittlungsmaßnahme nach dem Recht mindestens eines der beteiligten Mitgliedstaaten eine richterliche Genehmigung, enthält Art. 31 Abs. 3 EUStA-VO eine komplexe Zuständigkeitsregel, welcher Delegierte Europäische Staatsanwalt in seinem Mitgliedstaat eine Genehmigung einzuholen hat. Die EUStA-VO verfolgt dabei ausweislich des Erwägungsgrundes 72 das Ziel, dass in jedem Fall nur eine richterliche Genehmigung für jede Maßnahme notwendig sein soll. Die vom Verordnungsgeber gewählten Formulierungen in den Art. 31 und 32 EUStA-VO beantworten aber weder die Frage, in welchem Mitgliedstaat jeweils eine gerichtliche Genehmigung erfolgen muss, noch die Frage des Umfangs der jeweiligen Prüfungskompetenz eindeutig.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Gegenstand der zugrunde liegenden Entscheidung war ein Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgericht Wien (Österreich) vom April 2022. Mit seinen drei Vorlagefragen zu den Art. 31, 32 EUStA-VO, die der EuGH gemeinsam beantwortetet hat, wollte es im Wesentlichen wissen, ob sich die im Mitgliedstaat des unterstützenden Delegierten Europäischen Staatsanwalts durchgeführte (gerichtliche) Kontrolle sowohl auf Aspekte der Vollstreckung als auch auf solche der Begründung und Anordnung der Maßnahme erstrecken darf, wenn die Maßnahme nach dem Recht des unterstützenden Mitgliedstaats einer richterlichen Genehmigung bedarf. Als Folgefrage war zu klären, ob eine bereits erfolgte gerichtliche Kontrolle im anordnenden Mitgliedstaat diesen Kontrollumfang beeinflusst (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 38). Der EuGH beschränkt in seinem Urteil den Prüfungsumfang der Gerichte im unterstützenden Mitgliedstaat auf Vollstreckungsaspekte und folgt insoweit dem Schlussantrag der Generalanwältin vom 22.06.2023. Gleichzeitig verlangt er, dass Maßnahmen mit schwerwiegenden Eingriffen in die durch die Grundrechtscharta garantierten Rechte des Betroffenen einer vorherigen gerichtlichen Kontrolle im anordnenden Mitgliedstaat unterliegen müssen (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 79).
Dem Vorabentscheidungsersuchen lag dabei ein vom betrauten deutschen Delegierten Europäischen Staatsanwalt geführtes Ermittlungsverfahren zugrunde. Dieser hatte dem unterstützenden österreichischen Delegierten Europäischen Staatsanwalt die Anweisung erteilt, Wohn- und Geschäftsräume der Beschuldigten in Österreich zu durchsuchen und Vermögenswerte sicherzustellen. Das Vorgehen wurde auf § 3 Abs. 2 EUStAG gestützt. Soweit die Vorschriften der Strafprozessordnung hinsichtlich einer Ermittlungsmaßnahme eine gerichtliche Anordnung oder Bestätigung vorsehen, ist nach diesem bei grenzüberschreitenden Maßnahmen, die gemäß Artikel 31 Absatz 3 der Verordnung (EU) 2017/1939 in einem anderen an der Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft beteiligten Mitgliedstaat durchgeführt werden sollen, eine solche gerichtliche Anordnung oder Bestätigung bei einem deutschen Gericht nur einzuholen, wenn nach dem Recht des anderen Mitgliedstaates eine solche gerichtliche Anordnung oder Bestätigung nicht erforderlich ist. Der unterstützende Delegierte Europäische Staatsanwalt beantragte und erhielt in Österreich die nach österreichischem Recht erforderliche gerichtliche Bewilligung gemäß § 120 Abs. 1 öStPO. Gegen diese Bewilligungen in Österreich erhoben die Beschuldigten Beschwerde und rügten u.a. die fehlende Verhältnismäßigkeit, so dass das Beschwerdegericht mit den Auslegungsfragen konfrontiert war (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 26-37).
Der EuGH bestätigt zunächst den Befund, dass sich dem Wortlaut der Art. 31, 32 EUStA-VO keine ausdrückliche Regelung über den Kontrollumfang für die Zwecke einer richterlichen Genehmigung entnehmen lässt (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 53). Gleichzeitig sei den Normen aber eine klare Kompetenzverteilung zu entnehmen. Anordnung und Begründung der Maßnahme seien nach dem Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 und 2 EUStA-VO nach dem Recht des Mitgliedstaates des betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts zu beurteilen, während sich die Vollstreckung nach dem Recht des Mitgliedstaates des unterstützenden Delegierten Europäischen Staatsanwalts richte (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 54). Der EuGH betrachtet die grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen der EUStA anschließend im Kontext des traditionellen Systems der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten. Dieses wie das gesamte Unionsrecht setze gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Anerkennung als Grundsätze von fundamentaler Bedeutung im Unionsrecht voraus (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 55 ff.). Sowohl beim Europäischen Haftbefehl (vgl. EuGH, Urt. v. 23.01.2018 - C-367/16 „Piotrowski“ Rn. 52; EuGH, Urt. v. 31.01.2023 - C-158/21 „Puig Gordi u.a.“ Rn.. 87 f.) als auch bei der Europäische Ermittlungsanordnung (vgl. EuGH, Urt. v. 16.12.2021 - C-724/19 Rn. 53) etwa gebe es die beschriebene Kompetenzverteilung zwischen ausstellender und vollstreckender Justizbehörde (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 58-64). Gleiches müsse konsequenterweise auch für den behördlichen und gerichtlichen Prüfungsumfang im Mitgliedstaat des unterstützenden Delegierten Europäischen Staatsanwalts bei EUStA-Maßnahmen gelten (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 55, 61 ff., 72).
Dem Ziel der Verordnung sei entscheidendes Gewicht beizumessen. Sie strebe eine effizientere Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union an (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 65). Der Unionsgesetzgeber habe mit den in der EUStA-VO festgelegten Verfahren einen Mechanismus schaffen wollen, der grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen der EUStA mindestens so effizient ausgestalte wie bisherige Formen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 67). Die Anerkennung einer materiellen Prüfungskompetenz der Behörden und Gerichte im Mitgliedstaat des unterstützenden Delegierten Europäischen Staatsanwalts würde indes zu einem weniger effizienten System führen und den Zielen der Verordnung zuwiderlaufen (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 68, 72). Eine materielle Prüfung beeinträchtige die Effizienz dabei auch dadurch, dass Verfahrensakten versandt und übersetzt werden müssten sowie die dortigen Institutionen das gemäß Art. 31 Abs. 2 EUStA-VO anwendbare Recht des anordnenden Staats zu prüfen hätten (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 69 f.).
Gleichwohl erkennt der EuGH die Notwendigkeit, besonders schwerwiegende Ermittlungsmaßnahmen vor ihrer Durchführung gerichtlich kontrollieren zu lassen (Franssen, „The judgement in G.K. e.a. (parquet eurpéen) brought the EPPO a pre-Christmas tiding of comfort and joy but will that feeling last?“, European Law Blog 1/2024, 15.01.2024 sieht deshalb ein „salomonisches Urteil“). Die EUStA sei bereits gemäß Art. 5 Abs. 1 EUStA-VO zur Einhaltung der Betroffenenrechte aus der Grundrechtecharta verpflichtet. Dies werde durch die Garantien in Art. 41 EUStA-VO i.V.m. ErwGr 80, 83, 85 und durch den Konsultationsmechanismus zwischen den beteiligten Delegierten Europäischen Staatsanwälten gemäß Art. 31 Abs. 5 Buchst. c) EUStA-VO sichergestellt (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 76 f.). Bei schwerwiegenden Eingriffen in die Rechte des Betroffenen (z.B. Durchsuchungen von Privatwohnungen nach Art. 30 Abs. 1 Buchst. a) EUStA-VO) seien zusätzlich zu diesen Sicherungsmechanismen „angemessene und ausreichende Garantien wie eine vorherige gerichtlicher Kontrolle“ im anordnenden Mitgliedstaat vorzusehen (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 75).


C.
Kontext der Entscheidung
Die EUStA hat am 01.06.2021 ihre Tätigkeit aufgenommen und die ersten Lageberichte aus den Jahren 2021 und 2022 (abrufbar unter EPPO Annual Activity Report 2021 und EPPO Annual Activity Report 2022) legen nahe, dass die Zahl der Verfahren in den kommenden Jahren europaweit zunehmen wird. Grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen sind für diese Verfahren geradezu typisch. Mit zahlreichen weiteren Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Verordnung ist zu rechnen (vgl. Franssen, a.a.O.). So liegt dem EuGH derzeit u.a. das Ersuchen eines spanischen Gerichts vor (C-292/23), das sich mit den Rechtsschutzmöglichkeiten von Betroffenen im Rahmen von Art. 42 EUStA-VO befasst (Ersuchen v. 03.05.2023 - C-292/23). Die Hauptursache für zahlreiche ungeklärte Auslegungsfragen liegt darin, dass sich der Kommissionsvorschlag eines eigenen Strafverfahrensrechts für EUStA-Verfahren nicht durchgesetzt hat, so dass die EUStA-VO an vielen Stellen auf das nationale Verfahrensrecht der beteiligten Mitgliedstaaten verweist (Herrnfeld, in Herrnfeld/Brodowski/Burchard, a.a.O., Art 31 Rn. 4 f.). Die getroffenen Regelungen erscheinen jedoch (teilweise in allen sprachlichen Fassungen, teilweise nur in einzelnen sprachlichen Fassungen, die sich bei genauer Betrachtung inhaltlich doch voneinander unterscheiden) nicht immer eindeutig und führen dadurch zu Unklarheiten über das anwendbare Verfahrensrecht und die Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen. Diese Unklarheiten wurzeln auch in der uneinheitlichen Regelungstechnik des Verordnungsgebers. Neben der im deutschen Recht geläufigen Verwendung nummerierter Absätze mit mehreren Sätzen, nutzt dieser auch (nicht nummerierte) Unterabsätze innerhalb desselben Absatzes (z.B. Art. 28 Abs. 4 EUStA-VO, Art. 31 Abs. 3 EUStA-VO). Ob die Wahl zwischen diesen beiden Regelungstechniken einen Unterschied darstellt, der im Rahmen der systematischen Auslegung zu berücksichtigten ist, wird nicht aus sich heraus klar. Insbesondere für deutsche Rechtsanwender, die mit dieser Regelungstechnik im nationalen Recht üblicherweise nicht konfrontiert sind, ergeben sich dadurch Einfallstore für divergierende systematische Interpretationen.
Diese Problematik spiegelt sich auch im hier maßgeblichen Art. 31 EUStA-VO wider. Während dessen Absatz 2 Satz 2 auf das Recht des betrauten Mitgliedstaats (hier: Deutschland) für die Begründung und Anordnung der Maßnahme verweist, sieht Absatz 3 Unterabsatz 1 vor, dass wenn im Mitgliedstaat eines unterstützenden Delegierten Europäischen Staatsanwalts nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats eine „richterliche Genehmigung“ erforderlich ist, er diese nach dem Recht seines Mitgliedstaats (hier: Österreich) einzuholen hat. Absatz 3 Unterabsatz 3 wiederum legt fest, dass wenn nach dem Recht des Mitgliedstaats des unterstützenden Delegierten Europäischen Staatsanwalts eine solche richterliche Genehmigung nicht erforderlich ist, aber das Recht des Mitgliedstaats des betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts eine solche verlangt, diese von dem betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalt einzuholen und zusammen mit der Zuweisung zu übermitteln ist. Die Vollstreckung unterliegt immer dem Recht des unterstützenden Mitgliedstaats (§ 32 EUStA-VO). Keine ausdrücklichen Regelungen finden sich zum Prüfungsumfang der Gerichte und zur Zuständigkeit bei beiderseitigen richterlichen Genehmigungsvorbehalten.
Der EuGH stützt sein restriktives Verständnis maßgeblich auf das Ziel der EUStA-VO (effizientere Strafverfolgung) und auf Vergleiche mit den Instituten des Europäischen Haftbefehls und der Europäischen Ermittlungsanordnung. Er setzt den Weg der Vereinfachung grenzüberschreitender Ermittlungsmaßnahmen dabei konsequent fort (zu dieser Intention des Unionsgesetzgebers, vgl. Herrnfeld, eucrim 2023, 229, 233). Die Voraussetzungen der Instrumente zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen – in deren Reihe der EuGH die EUStA-VO explizit stellt – wurden dabei immer weiter abgesenkt (vgl. für EUStA-Maßnahmen ohne richterliche Genehmigung: Herrnfeld, eucrim 2023, 229, 233). Hätte der EuGH demnach eine materielle Prüfungskompetenz im unterstützenden Mitgliedstaat anerkannt, hätte dies einen „Rückschritt“ bedeutet, weil grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen der EUStA mit richterlichem Genehmigungsvorbehalt strengeren Kontrollen unterworfen wären als eine inhaltsgleiche Europäische Ermittlungsanordnung (vgl. zu dieser Konsequenz: Schlussantrag GA Rs. C-281/22 Rn. 71; Costa Ramos, „The EPPO and the equality of arms between the prosecutor and the defence“, New Journal of European Criminal Law, Vol. 14 Issue 1, 27.03.2023). Die Entscheidung war damit im Hinblick auf die Gesamtentwicklung der justiziellen Zusammenarbeit in Europa brisant und entfaltet große rechtspolitische Signalwirkung.
Obwohl die Entscheidung gegen eine umfassende Prüfungskompetenz vor diesem Hintergrund kaum überrascht, sind sowohl Ergebnis als auch Begründung durchaus kritisch zu sehen. Bereits die Wortlautauslegung des EuGH erschöpft sich in der Wiedergabe des Normtextes und der schlichten Behauptung einer klaren Kompetenzzuweisung (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 47-54). Unerwähnt lässt der EuGH die Brüche, die sein Wortlautverständnis hervorruft. Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 EUStA-VO wäre schlicht überflüssig, wenn Art. 31 Abs. 2 EUStA-VO die vom EuGH angenommene Grundzuständigkeit des anordnenden Mitgliedstaats statuieren würde. Ohne ausdrückliche Kompetenzzuweisung zum unterstützenden Mitgliedstaat wäre immer der anordnende Staat zuständig, ohne dass es der Regelung des Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 EUStA-VO bedurft hätte. Zudem leitet die englische Fassung des Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 EUStA-VO mit „however“ ein, was für eine Ausnahmeregelung von der in Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 1 EUStA-VO normierten Zuständigkeit des unterstützenden Mitgliedstaats für die richterliche Genehmigung spricht (so auch die dt. und österr. Regierung, vgl. Schlussantrag GA Rs. C-281/22 Rn. 43).
Auch in systematischer Hinsicht begegnet die Argumentation des EuGH Zweifeln. Sie ordnet grenzüberschreitende Ermittlungen der EUStA als Instrument gegenseitiger Anerkennung ein und lässt damit den in Art. 31 EUStA-VO niedergelegten Kompromiss und das Wesen der EUStA als einheitliche Behörde außer Acht (kritisch auch aufgrund der Gesetzgebungshistorie: Herrnfeld, eucrim 2023, 229, 233 f.) Tatsächlich waren die Verhandlungen über Art. 31 EUStA-VO – trotz des angestrebten Ziels der Vereinfachung – kontrovers und resultierten in einer Formulierung, die mit Ausnahme von Art. 6 jeglichen Bezug zum Konzept der gegenseitigen Anerkennung vermeidet (Herrnfeld, in Herrnfeld/Brodowski/Burchard, a.a.O., Art. 31 Rn. 6). Auch die zahlreichen Verweise der EUStA-VO auf das Recht des unterstützenden Mitgliedstaats (Art. 29, 30 Abs. 2 und 3, 32 EUStA-VO) legen nahe, dass es im Kern nicht um die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung, sondern um die Tätigkeit einer einheitlichen Europäischen Ermittlungsbehörde – freilich mit dezentraler Struktur gemäß Art. 8 Abs. 1 EUStA-VO – geht (ECBA Open Letter zum Verfahren C-281/22, S. 9, vgl. auch Costa Ramos, a.a.O.). Dann agieren die mitgliedsstaatlichen Gerichte aber nicht als Kontrollinstanz für ausländische Regelungsentscheidungen, sondern bewerten Verfahrenshandlungen der EUStA anhand desjenigen Verfahrensrechts, das die EUStA-VO für anwendbar erklärt (Costa Ramos, a.a.O.; Herrnfeld in: Herrnfeld/Brodowski/Burchard, a.a.O., Art. 31 Rn. 12, 23). Art. 31 Abs. 3 EUStA-VO beruft hierbei die Gerichte des unterstützenden Mitgliedstaats zu einer eigenen Entscheidung, ohne dass der Verordnung Hinweise zu entnehmen wären, die eine Einschränkung der Prüfungskompetenz dieser Gerichte erklären oder rechtfertigen könnten (ECBA Open Letter zum Verfahren C-281/22, S. 9 f.; Costa Ramos, a.a.O.; keine Anhaltspunkte für eine Begrenzung im Wortlaut und der Intention des Gesetzgebers sieht auch Herrnfeld, eucrim 2023, 229, 232).
Soweit der EuGH das mit der Verordnung angestrebte Ziel einer effizienten Strafverfolgung heranzieht, mag man seinem Anliegen (vielleicht) im Ausgangspunkt zustimmen. Zu bemängeln ist aber, dass diese Effizienz auf Kosten der Beschuldigten erreicht wird, indem ihnen rechtsstaatliche Sicherungen – namentlich eine materielle gerichtliche Kontrolle der Maßnahme im unterstützenden Mitgliedstaat – entzogen wird. Besonders gravierend ist dieser Umstand, wenn das nationale Recht des mit dem Verfahren betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts keine richterliche Genehmigung vorsieht. Die dann entstehende Rechtsschutzlücke erkennt der EuGH und versucht sie zu schließen, indem für schwerwiegende Grundrechtseingriffe (im Tenor der Entscheidung) eine Pflicht zur vorhergehenden gerichtlichen Kontrolle im anordnenden Mitgliedstaat statuiert wird. Auf eine solche Einführung von harmonisierten Richtervorbehalten für bestimmte Ermittlungsmaßnahmen im nationalen Verfahrensrecht hatten sich die Mitgliedstaaten im Gesetzgebungsprozess aber explizit nicht einigen können (Herrnfeld in: Herrnfeld/Brodwoski/Burchard, a.a.O., Art. 31 Rn. 18; zu den Vorbehalten bzgl. einer weiter gehenden Harmonisierung vgl. auch Franssen, a.a.O.). Dass der EuGH an dieser Stelle eigene rechtspolitische Vorstellungen losgelöst vom in der EUStA-VO gefundenen Kompromiss umsetzt, könnte kaum greifbarer sein (Franssen, a.a.O., spricht insoweit von „indirekter Harmonisierung“ durch den EuGH).
Zuletzt vermögen auch die Verweise des EuGH auf die weiterhin bestehenden grundrechtlichen Sicherungsmechanismen in den Art. 41 und 31 Abs. 5 EUStA-VO nicht zu überzeugen. Beide erweisen sich für den Betroffenen als wenig hilfreich, da aus der formellen Einräumung der Garantien in Art. 41 EUStA-VO keine Justiziabilität und damit keine wirksame Sicherung der Rechte folgt (für eine vergleichbare Argumentation vgl. Silberzahn, „Rechtsschutz gegen OLAF“, JA 2016, 205, 208 f.). Der Konsultationsmechanismus gemäß Art. 31 Abs. 5 EUStA-VO (falls eine mildere Maßnahme in Betracht kommt) erfordert hingegen in aller Regel eine umfassende Kenntnis des Sachverhalts und damit Akteneinsicht. Die damit verbundenen logistischen Schwierigkeiten (Übersetzung, umfangreicher Aktentransfer) werden vom EuGH indes gerade als Gegenargument gegen eine materielle gerichtliche Prüfung im unterstützenden Mitgliedstaat angeführt (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 - C-281/22 Rn. 69). Die Schutzkonzeption des EuGH erfordert demnach Bedingungen, die der EuGH selbst als Hürden für eine effektive Ermittlungszusammenarbeit einordnet und mit seiner Auslegung überwinden möchte.
Die Entscheidung reiht sich damit in die aus Sicht des Beschuldigten unerfreuliche Entwicklung ein, wonach grenzüberschreitende europäische Ermittlungen für die Strafverfolgungsbehörden einfacher (und effizienter) gestaltet werden, ohne dass der damit verbundenen „Minimalisierung des Grundrechtsschutzes“ auf europäischer Ebene entgegengewirkt wird (diese Entwicklung kritisiert in anderem Zusammenhang bereits Gaede, NJW 2013, 1279 ff.). Die Sicherung von Verfahrensrechten obliegt auch weiterhin den Nationalstaaten (vgl. Franssen, a.a.O.; Costa Ramos, a.a.O.).
Die Entscheidung des Verordnungsgebers gegen harmonisierte Regelungen zum Schutz Betroffener auf Unionsebene bedeutet zwangsläufig eine diffizile Verzahnung der EUStA-VO mit den nationalen Prozessordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Hierunter fällt vorliegend die vom EuGH nicht thematisierte Frage, was unter einer richterlichen „Genehmigung“ überhaupt zu verstehen ist. Der Begriff der Genehmigung ist in Deutschland kein strafprozessualer Fachbegriff. Das gleiche gilt für in anderen sprachlichen Fassungen verwendete Begrifflichkeiten, wie etwa dem in der französischen Fassung verwendeten Begriff „autorisation judiciaire“ für Frankreich. Anders als die deutsche Fassung deutet der Wortlaut hier jedoch auf eine gerichtliche Befassung vor der Durchführung der Maßnahme hin. Im Deutschen Zivilrecht hingegen ist die Genehmigung legaldefiniert als die nachträgliche Zustimmung, § 184 Abs. 1 BGB, während sie im sonstigen Verwaltungsrecht keine zeitliche Komponente beinhaltet. Ein Vergleich der unterschiedlichen sprachlichen Fassungen der EUStA-VO und der Entscheidung des EuGH im Deutschen, Englischen und Französischen zeigt, dass die Entscheidung stets eine andere Formulierung als Art. 31 EUStA-VO verwendet und in allen sprachlichen Fassungen der Entscheidung das Kriterium der Vorherigkeit der gerichtlichen Kontrolle im Fall schwerwiegender Eingriffe durch grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen mit einem eigenen Adjektiv betont wird.
Für den Fall grenzüberschreitender Ermittlungen beinhaltet die Verordnung jedoch bereits in sich selbst nicht aufzulösende Regelungswidersprüche. Die Lösung dieser Widersprüche kann nur durch eine Änderung der Verordnung selbst erfolgen. Bereits die Verordnung selbst erkennt die Möglichkeit von Anpassungsbedarf und enthält mit Art. 119 EUStA-VO eine Überprüfungsklausel: Spätestens fünf Jahre nach Arbeitsaufnahme der EUStA muss die Kommission eine Bewertung der Durchführung und Wirkung der EUStA-VO in Auftrag geben und einen Bewertungsbericht vorlegen. Die Kommission übermittelt diesen Bericht zusammen mit ihren Schlussfolgerungen dem Europäischen Parlament, dem Rat sowie den nationalen Parlamenten. Erkennt die Kommission Regelungsbedarf, so legt die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat direkt Gesetzgebungsvorschläge mit vor. Der Bereich gerichtlicher Kontrolle bei grenzüberschreitenden Ermittlungen sollte auf der Liste notwendiger Änderungen weit oben stehen.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des EuGH hat weitreichende Auswirkungen auf die Praxis. Der Betroffene einer grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahme der EUStA kann danach deren materielle Begründetheit nicht in dem Staat, in dem die Maßnahme durchgeführt wurde, sondern nur im Anordnungsstaat überprüfen lassen. Spiegelbildlich zu den Ermittlungsbehörden wird deshalb auch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit aufseiten der Strafverteidigung notwendig sein, um zeitnah entsprechende Expertise in der jeweiligen Rechtsordnung verfügbar zu haben.
Die Entscheidung des EuGH hat aber auch Auswirkungen auf das nationale Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten. Soweit diese (wie bspw. Deutschland in § 3 Abs. 2 EUStAG) bisher offenbar davon ausgegangen sind, dass eine materielle Prüfung im unterstützenden Mitgliedstaat erfolgt, bedarf es einer Anpassung. Das nationale Verfahrensrecht des anordnenden Staats muss nunmehr selbst gerichtliche Kontrollen bei Maßnahmen mit schwerwiegenden Grundrechtseingriffen vorsehen. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich dabei in Verfahren, in denen Beweismittel bereits ohne diese vom EuGH vorgesehenen Garantien erlangt wurden. Hier werden sich in Verfahren betrauter Delegierter Europäischer Staatsanwälte verschiedener Mitgliedstaaten bedingt durch die nicht vorgenommene Harmonisierung der einzelnen Prozessordnungen verschiedene länderspezifische Konsequenzen ergeben. Aus Sicht der Strafverteidigung sollte hier beispielsweise in laufenden Verfahren die Geltendmachung von Beweisverwertungsverboten jedenfalls erwogen werden. Anpassungsbedarf besteht nicht zuletzt auch für das Kollegium der EUStA, deren Guidelines vom Januar 2022 zur Auslegung des Art. 31 EUStA-VO an die Entscheidung des EuGH angepasst werden müssen.
Daneben werden die praktischen Auswirkungen der Entscheidung maßgeblich davon abhängen, wie sich daraus ergebende Folgefragen von den nationalen Gerichten und dem EuGH beantwortet werden. Zentral ist dabei zunächst die Frage, welche Aspekte zur Vollstreckung i.S.d. EuGH-Entscheidung gehören. Zählen hierzu bspw. auch die Regelungen des gesetzlichen Berufsgeheimnisschutzes und Beschlagnahmeverbote? Dafür spricht einiges, Klarheit kann insoweit aber nur der EuGH schaffen. Zugleich ist offen, ob Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 1 EUStA-VO (und damit die Zuständigkeit des unterstützenden Mitgliedstaats für die Prüfung der Vollstreckungsaspekte) nur eingreift, wenn das Recht dieses Mitgliedstaats explizit eine richterliche Genehmigung bezogen auf die Vollstreckung vorsieht (was in den wenigsten Rechtsordnungen der Fall sein dürfte) oder ob die Norm bei jeder Art von richterlichem Genehmigungsvorbehalt eingreift und nur der Prüfungsumfang auf Vollstreckungsaspekte beschränkt bleibt. Auch der Anwendungsbereich des Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 2 EUStA-VO muss mit der Entscheidung des EuGH hinterfragt werden. Denn es leuchtet nicht unmittelbar ein, weshalb der betraute Delegierte Europäische Staatsanwalt die Maßnahme zurückziehen sollte, wenn nur die konkreten Vollstreckungsmodalitäten versagt wurden.
Zuletzt bleibt abzuwarten, ob und welche Kriterien die nationalen Gerichte und der EuGH entwickeln, um die Schwere eines Grundrechtseingriffs zu bestimmen und damit festzulegen, wann eine vorherige gerichtliche Kontrolle i.S.d. Urteils in der Rs. C-281/22 im anordnenden Mitgliedstaat notwendig wird.



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