juris PraxisReporte

Anmerkung zu:OLG Celle 14. Zivilsenat, Urteil vom 13.12.2023 - 14 U 32/23
Autor:Jan Lukas Kemperdiek, LL.M., RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und FA für Medizinrecht
Erscheinungsdatum:31.01.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 7 StVG, § 6 StVO, § 8 StVO, § 4 StVO, § 3 StVO, § 1 StVO
Fundstelle:jurisPR-VerkR 2/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Kemperdiek, jurisPR-VerkR 2/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall



Leitsätze

1. Auch bei einem berührungslosen Unfall können die Grundsätze zum Anscheinsbeweis Anwendung finden (ebenso OLG Schleswig, Beschl. v. 17.02.2022 - 7 U 144/21 - SVR 2022, 302; entgegen OLG München, Urt. v. 07.10.2016 - 10 U 767/16 Rn. 9; OLG Hamm, Urt. v. 09.05.2023 - 7 U 17/23 Rn. 51)
2. Gelingt es einem Verkehrsteilnehmer nicht, rechtzeitig auf eine wahrgenommene Gefahrenlage zu reagieren, und verhindert er lediglich durch einen vorherigen Sturz (hier: als Motorradfahrer) eine Kollision mit dem vorausfahrenden Kraftfahrzeug, spricht wie im Fall einer „Auffahrkollision“ der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Hinterherfahrenden.
3. Wer an einer unübersichtlichen Engstelle vor einer Kurve ein Hindernis (hier: ein haltendes Müllfahrzeug) links umfährt, muss gemäß § 6 Satz 1 StVO den Gegenverkehr sichern und besonders vorsichtig prüfen, ob ein Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde.



A.
Problemstellung
Das OLG Celle hatte in der Berufungsinstanz die Frage zu klären, ob die Grundsätze des Anscheinsbeweises auch bei berührungslosen Unfällen gelten, hier im Zusammenhang mit einem Unfallgeschehen unter Beteiligung von insgesamt fünf Fahrzeugen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Im Wege der Feststellungsklage macht der Kläger dem Grunde nach Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten als Folge eines komplexeren Unfallereignisses vom 31.03.2021 geltend:
Unfallbeteiligt, jedenfalls unmittelbar an der Unfallstelle zugegen, waren der Zeuge A1 mit seinem PKW, der Kläger mit seinem Sohn als Sozius auf einem Motorrad, die Beklagte zu 1), ein am Straßenrand haltender Müllwagen (Halter: O) und ein weiterer Zeuge A2, ebenfalls auf einem Motorrad. Der Zeuge A1 fuhr bei zulässigen 70 km/h voraus, dahinter fuhr der Kläger mit seinem Motorrad, dahinter der Zeuge A2. In einer Kurve stand im Gegenverkehr das Müllfahrzeug der O auf der Fahrbahn, welches grade durch Mitarbeiter mit Müllsäcken beladen wurde. Der Müllwagen blockierte die Fahrspur dabei vollständig. In Fahrtrichtung des Müllwagens und zunächst hinter diesem fuhr die Beklagte zu 1) und schwenkte bei Erreichen der durch den Müllwagen erzeugten Engstelle in den Gegenverkehr, um an dem Hindernis vorbeizufahren. Dies erkannte der Zeuge A1 und bremste sein Fahrzeug scharf ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1) zu vermeiden. Auch der Kläger leitete eine Vollbremsung ein, geriet dabei ins Rutschen und stürzte. Sein Motorrad kollidierte weder mit dem Fahrzeug des Zeugen A1 noch dem der Beklagten zu 1) oder dem Müllwagen. Der hinterherfahrende Zeuge A2 konnte rechtzeitig anhalten bzw. ausweichen und verunfallte nicht. Die hinter der Beklagten zu 1) stehende Haftpflichtversicherung, die Beklagte zu 2) lehnte die Haftung außergerichtlich ab.
Das erstinstanzliche LG Verden hatte im Rahmen der Beweisaufnahme die Parteien sowie die Zeugen angehört und ein Sachverständigengutachten zum Unfallhergang eingeholt, bevor es die Klage sodann abwies (LG Verden, Urt. v. 22.02.2023 - 1a O 104/21). Maßgeblich führt das Landgericht hierzu aus, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme weder ein risikoreiches „Überholen“ der Beklagte zu 1) noch ein zu geringer Abstand des Klägers zu seinem Vordermann festzustellen sei. Es spräche gleichwohl einiges für ein falsches Verhalten des Klägers, da nach der Anhörung der Zeugen A1 und A2 Indizien dafür erkennbar seien, dass der Kläger zu dicht aufgefahren ist und dann falsch reagiert habe. Der Sachverständige käme zu dem Ergebnis, dass der Kläger die Kollision bei einer kontrollierten Bremsung hätte vermeiden können.
Das OLG Celle kommt zu einer abweichenden Bewertung und geht von einer Haftungsquote mit 40% und 60% zulasten des Klägers aus. Dabei legt es bei der Beklagten zu 1) einen – naheliegenden – Verstoß gegen § 6 Abs. 1 StVO und bei dem Kläger trotz der fehlenden Berührung einen Verstoß entweder gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO, § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO oder § 1 Abs. 2 StVO zugrunde. Den Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO nimmt das OLG Celle an, da es den Anscheinsbeweis auch dann als nicht erschüttert ansieht, wenn die Kollision nur wegen eines vorangegangenen – und aufgrund des Unfallhergangs erst ausgelösten – Sturzes des Motorradfahrers ausbleibt.
Der Senat hat die Revision zum BGH zugelassen, da (vgl. unter Ziff. C) entgegenstehende obergerichtliche Rechtsprechung vorliegt.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung ist von besonderer Bedeutung für das Regelungssystem des Anscheinsbeweises.
Die Besonderheit des hiesigen Unfallhergangs liegt zum einen in der Tatsache, dass es sich für alle Beteiligten um einen berührungslosen Unfall handelte, keines der beteiligten Fahrzeuge also mit einem anderen Unfallbeteiligten direkt zusammengestoßen ist. Zum anderen stellte sich dem OLG Celle die Frage, ob in dieser Konstellation ein Anscheinsbeweis gegen einen der beteiligten Fahrzeugführer streiten kann.
Bei einem Unfall ohne Berührung der beteiligten Fahrzeuge ist zunächst vorab stets die Frage zu klären, ob sich der Unfall überhaupt bei dem Betrieb des unfallgegnerischen Fahrzeugs ereignete, ist dies doch Eintrittsvoraussetzung in die Halterhaftung jedenfalls nach § 7 StVG. Die Grundsätze der Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall fasst der BGH in seiner Entscheidung vom 22.11.2016 (BGH, Urt. v. 22.11.2016 - VI ZR 533/15) noch einmal prägnant zusammen. Danach kommt eine Zuordnung des Unfalls zum Betrieb des Kraftfahrzeugs nur dort in Betracht, wo dieses Fahrzeug über seine bloße Anwesenheit am Unfallort hinaus entweder durch seine Fahrweise oder durch eine sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (auch BGH, Urt. v. 21.09.2010 - VI ZR 263/09).
Für die so festzustellende Beteiligung der Beklagten zu 1) und die Zurechnung der Schäden zum Betrieb ihres Fahrzeugs war diese Hürde durch das OLG Celle leicht zu nehmen. Nach dem Ergebnis der (wiederholten) Beweisaufnahme stand der Verursachungsbeitrag der Beklagten zu 1) fest. Sie war in den Gegenverkehr gefahren und hatte den Zeugen A1 so zu einer starken (Brems-)Reaktion gezwungen. Diese wiederum veranlasste das Fahrverhalten des Klägers. Das Fahrmanöver der Beklagten zu 1) stellt einen Verstoß gegen § 6 Satz 1 StVO dar, indem die Beklagte zu 1) die entgegenkommenden und ihr gegenüber bevorrechtigten Fahrzeuge nicht durchfahren ließ. Dabei bestätigt das OLG Celle bei Gelegenheit noch einmal die bekannten Anforderungen an ein verkehrsgerechtes Verhalten i.S.d. § 6 Satz 1 StVO: „Die Vorschrift regelt die Verhaltenspflichten beim Vorbeifahren an haltenden Fahrzeugen auf der rechten Fahrbahnseite, die kein Vorbeifahren ohne durch Mitbenutzung der Gegenfahrbahn bedingte Behinderungen des Gegenverkehrs zulassen. Der Gegenverkehr hat, wie bei der Vorfahrt i.S.d. § 8 StVO, Vorrang schon dann, wenn er am zügigen, wenn auch notfalls angepassten langsamen Durchfahren nennenswert gehindert wäre. Es besteht eine Wartepflicht, wenn der Gegenverkehr sonst nennenswert verlangsamen oder erst die Gewissheit darüber abwarten müsste, ob sein Vorrang beachtet wird. Der Wartepflichtige muss sich vor dem Hindernis klar als solcher verhalten. Er muss durch sein Verhalten anzeigen, dass er warten werde, sonst haftet er.“
Durchaus beachtenswert ist in diesem Zusammenhang aber vielmehr die Lösung des OLG Celle für die Annahme einer (Mit-)Haftung des Klägers. Schon bei gefühlsmäßiger Betrachtung des Sachverhalts drängt sich auf, dass der Kläger hier mithaftet. Dies aber weniger wegen seines Verhaltens gegenüber der Beklagten zu 1) (welches nicht zu beanstanden sein dürfte), sondern vielmehr wegen des Abstands zu seinem Vordermann. Die Anknüpfung gelingt dem OLG Celle überzeugend über die Lösung des Anscheinsbeweises:
Die durch den BGH in st. Rspr. (BGH, Urt. v. 23.02.1955 - VI ZR 11/54; BGH, Urt. v. 19.03.1996 - VI ZR 380/94; BGH, Urt. v. 30.11.2010 - VI ZR 15/10; BGH, Urt. v. 10.04.2014 - VII ZR 254/13) entwickelten Grundsätze des Anscheinsbeweises greifen immer dann ein, wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt, also in Fällen, in denen ein bestimmter Tatbestand nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist (BGH, Urt. v. 10.04.2014 - VII ZR 254/13). Dabei geht die Rechtsprechung mit der Anwendung einer Anscheinsbeweis-Konstellation im Falle berührungsloser Unfälle grundsätzlich zurückhaltend um. Das OLG München (Urt. v. 07.10.2016 - 10 U 767/16) lässt die Anwendung eines Anscheinsbeweises in dieser Konstellation an der fehlenden, aber vorauszusetzenden Typizität des Geschehensablaufs stets scheitern. Das OLG Hamm lehnt die Anwendung des Anscheinsbeweises (hier: sich schnell annähernder, aber wartepflichtiger Querverkehr) ebenfalls ab (OLG Hamm, Urt. v. 09.05.2023 - 7 U 17/23). Das OLG Brandenburg verneint einen Anscheinsbeweis in einer derartigen Konstellation ebenfalls (OLG Brandenburg, Beschl. v. 29.11.2018 - 12 U 92/18). Demgegenüber geht das OLG Schleswig (Beschl. v. 17.02.2022 - 7 U 144/21) von der Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises auch bei berührungslosen Unfallkonstellationen aus, soweit das über die fehlende Kollision hinausgehende und feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass der betreffende Verkehrsteilnehmer schuldhaft gehandelt hat. Ähnlich gelangen die durch das OLG Celle ausgewerteten Entscheidungen des KG (Urt. v. 15.05.1972 - 12 U 1022/70), des LG Saarbrücken (Urt. v. 12.03.2010 - 13 S 215/09) und des LG Wuppertal (Urt. v. 14.05.2020 - 9 S 201/19) zur Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises.
Unter dieser Prämisse gelangt das OLG Celle in seiner Entscheidung zu einem Verkehrsverstoß des Klägers im Rahmen der Wahlfeststellung entweder aus § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO (zu geringer Abstand zum Vordermann), § 3 Abs. 1 StVO (Verstoß gegen das Sichtfahrgebot) oder § 1 Abs. 2 StVO (Unachtsamkeit). Jedenfalls sei in allen denkbaren Konstellationen das plötzliche, aber verkehrsinduzierte Bremsmanöver des Zeugen A1 als Auslöser für den Sturz nicht wegzudenken. Die Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge für die Folgen des Sturzes des Klägers führt für das Oberlandesgericht zu einer Haftungsquote von 40% zu 60% zulasten des Klägers.
Der Entscheidung des OLG Celle ist im Ergebnis zuzustimmen. Anders als das OLG München meint (OLG München, Urt. v. 07.10.2016 - 10 U 767/16), kann eine Typizität als Voraussetzung der Anwendung eines Anscheinsbeweises in solchen Fällen nicht per se ausgeschlossen sein. Eine solche liegt gerade in der hier entschiedenen Konstellation vor, in der sich ein Motorradfahrer zur Vermeidung einer ansonsten unausweichlichen Kollision (bewusst) fallen lässt, um so dem drohenden Zusammenstoß zu entfliehen. Da kein Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug freiwillig „aufgibt“ und es im Betrieb unkontrolliert seinem Schicksal überlässt, liegt der vom OLG Celle geäußerte Verdacht besonders nahe, dass der Kläger den willkürlichen Sturz als „letzte Rettung“ seiner selbst erkannt und umgesetzt hat.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Bedeutsam für die Praxis ist die hier positiv beantwortete Frage der Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises bei einem berührungslosen Verkehrsunfall. Berührungslose Unfälle bieten Beweisschwierigkeiten, die durch die Anwendbarkeit eines Anscheinsbeweises auch in diesen Konstellationen – wie die vorliegende Entscheidung zeigt – überwunden werden können. Es bleibt daher abzuwarten, ob gegen die Entscheidung die vom Berufungsgericht zugelassene Revision geführt wird und welchen Weg der BGH nimmt. Es kann für die Anwendbarkeit eines Anscheinsbeweises keine Rolle spielen, ob die Fahrzeuge kollidieren oder nicht. Da selbst veranlasste Überreaktionen dem Betrieb zuzurechnen und damit haftungsbegründend sind (BGH, Urt. v. 22.11.2016 - VI ZR 533/15), ist nicht zu erkennen, warum es mit der ablehnenden Auffassung in jeder – beliebigen – Konstellation des berührungslosen Unfalls immer an einer Typizität fehlen sollte. Die Typizität erwächst aus der Frage des Verkehrsverhaltens desjenigen, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis eingreifen soll und lässt Rückschlüsse auf dessen Verschulden zu. So mag es aber auch typische Situationen geben, in denen ein Verkehrsverstoß vorliegt, es aber „gerade noch einmal gut gegangen“ ist. Warum in diesen Konstellationen das auslösende Verhalten eines Verkehrsteilnehmers aber anders zu bewerten sein soll als im Falle einer nachfolgenden Kollision, erschließt sich nicht. Die Frage der Adäquanz wird über die Schwelle der „Berührungslosigkeit“ gelöst. Kann ein Schadensereignis dem Betrieb zugerechnet werden, sind alle Anschlussfragen an den Grundregeln des allgemeinen Haftungsrechts zu messen.
Nicht berücksichtigt – weil offenbar von keiner Partei vorgetragen – hat das OLG Celle die sich aus der Anhörung des Sachverständigen nahezu aufdrängende Frage der für den Kläger dann nicht (mit-)haftungsbegründenden Überreaktion als Antwort auf den Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1): Der Sachverständige führt aus, dass der Kläger bei einer nicht verspäteten, ordnungsgemäßen Bremsung ohne Panikreaktion eine drohende Kollision mit dem vorausfahrenden Zeugen A1 hätte verhindern können. Die für die Frage der Zurechnung eines objektiv unnötigen und ggf. sogar erst schadensbegründenden Rettungsverhaltens entwickelten Grundsätze der Überreaktion (z.B. OLG Brandenburg, Urt. v. 12.09.2017 - 12 U 1/17, aber auch OLG Celle, Urt. v. 15.05.2018 - 14 U 175/17) könnten hier insoweit zur Anwendung kommen, als dass bei entsprechendem Vortrag des Klägers der Sturz mangels Typizität des Verhaltens nicht mehr in den Bereich eines Anscheinsbeweises gefallen wäre.



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