juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 6. Zivilsenat, Urteil vom 14.11.2023 - VI ZR 98/23
Autor:Dr. Alexander Schäfer, Vors. RiLG
Erscheinungsdatum:08.05.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 73 VVG, § 426 BGB, § 78 VVG, § 7 StVG, § 2 FZV, § 19 StVG
Fundstelle:jurisPR-VerkR 9/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Schäfer, jurisPR-VerkR 9/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Unfall mit Gespann: „Ziehen“ eines Anhängers auch beim Rückwärtsfahren



Leitsatz

Auch das Rückwärtsfahren mit einem Anhänger ist ein „Ziehen“ i.S.v. § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG.



A.
Problemstellung
Wichtige Fragen möchte man geklärt haben. Soll dies geschehen, kann der Weg auch bei kleinen Streitwerten über das Amtsgericht und die Berufungskammer des Landgerichts bis zum BGH führen. Das bietet sich vor allem dann an, wenn eine Rechtsfrage im Mittelpunkt steht. So war es auch in dem vorliegenden Fall, in dem der BGH über die Auslegung von § 19 StVG zu befinden hatte, der die Haftungsverteilung bei Unfällen mit Gespannen (= Zugfahrzeug mit Anhänger, § 19 Abs. 2 StVG) regelt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der in u.a. MDR 2024, 105 veröffentlichten Entscheidung des 6. Zivilsenats des BGH lag der folgende Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin war Haftpflichtversicherer eines Kraftfahrzeugs, das am Unfalltag mit einem Anhänger unterwegs war, der bei der Beklagten haftpflichtversichert war. Beim Rückwärtsrangieren mit dem Gespann verursachte der Fahrer einen Schaden an dem Kraftfahrzeug eines Dritten, wodurch diesem ein Schaden von 930 Euro entstand. Die Klägerin regulierte diesen Schaden und nimmt nun die Beklagte im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs (§ 426 BGB) auf die Hälfte dieses Betrags in Anspruch. Das Amtsgericht sprach der Klägerin in erster Instanz 465 Euro nebst Zinsen zu. Das Landgericht änderte das Urteil auf die zugelassene Berufung hin ab und wies die Klage ab. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Anspruch weiter.
Das Landgericht als Berufungsgericht hatte den Anspruch aus § 73 Abs. 3 VVG, § 19 Abs. 4 StVG, § 426 BGB verneint und ausgeführt, es liege eine Mehrfachversicherung i.S.d. § 78 Abs. 1 VVG vor, denn das Gespann sei bei verschiedenen Versicherern haftpflichtversichert, das Zugfahrzeug bei der Klägerin, der Anhänger bei der Beklagten. Als Gespann hafteten die beiden Parteien dem Dritten als Gesamtschuldner auf dessen Schaden, § 426 BGB. Der Innenausgleich richte sich nach § 78 Abs. 3 VVG und § 19 Abs. 4 StVG. Eine anhängerspezifische Gefahr habe sich bei dem Geschehen nicht verwirklicht, weswegen es nach § 19 Abs. 4 Satz 2 StVG bei der Haftung des Versicherers des Zugfahrzeugs bleibe. Auch im Fall des Rückwärtsrangierens – wie hier – sei ein „Ziehen“ i.S.d. § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG gegeben, das für sich allein noch keine Gefahrerhöhung verursache. Zwar sei unter einem „Ziehen“ im Wortsinn eine Bewegung des Anhängers nach vorne zu verstehen, dies widerspreche aber der Systematik der Vorschrift und dem Willen des Gesetzgebers. Darüber hinausgehende Anhaltspunkte für eine Gefahrerhöhung fehlten, so dass es bei der Wertung des § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG bleibe, mithin bei der Alleinhaftung des Zugfahrzeugs im Innenverhältnis, für das die Klägerin einstandspflichtig sei. § 19 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Satz 4 StVG stelle eine „andere Bestimmung“ i.S.d. § 426 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BGB dar.
Der BGH hat die Wertung des Berufungsgerichts bestätigt und die Revision aus Rechtsgründen zurückgewiesen.
Das Berufungsgericht sei zutreffend von der Alleinhaftung des Zugfahrzeugs im Innenverhältnis ausgegangen. Bei dem Zugfahrzeug und dem Anhänger habe es sich gemeinsam um ein Gespann gehandelt, bei dem eine Mehrfachversicherung vorgelegen habe, § 78 Abs. 3 VVG und § 19 StVG (vgl. dazu die vom Senat zitierten Urteile des Senats: BGH, Urt. v. 13.03.2018 - VI ZR 151/17 Rn. 22 - NJW 2018, 2120; BGH, Urt. v. 27.10.2010 - IV ZR 279/08 Rn. 9 ff. - BGHZ 187, 211). Ob (ausnahmsweise) eine Gefahrerhöhung des Gespanns durch den Anhänger eingetreten sei, sei eine tatrichterliche Frage und in der Revision nur eingeschränkt überprüfbar. Dabei ergebe sich aus § 19 Abs. 2 Satz 4 StVG, dass das Ziehen des Anhängers noch keine Gefahrerhöhung bedeute. Dabei sei in der vorliegenden Konstellation, in der das Zugfahrzeug rückwärtsfahre und dabei den Anhänger mit sich bewege (dies bezeichnet der BGH als „Rückwärtsschieben“), ebenfalls von einem „Ziehen“ i.S.d. § 19 Abs. 2 Satz 4 StVG auszugehen.
Entscheidend sei, dass es eine Bewegung des Anhängers durch das Zugfahrzeug gebe, während der Anhänger angehängt sei. In § 7 StVG a.F. sei deshalb bei der Anhängerhaftung auch noch die Rede vom „Mitführen“ des Anhängers durch das Zugfahrzeug gewesen. Durch die Neuformulierung der Vorschrift sollte deren Inhalt nicht geändert werden (vgl. hierzu die vom BGH angeführten Quellen: BT-Drs. 19/17964, S. 9 ff.; Bollweg/Wächter, NZV 2020, 545, 549; Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl., § 19 StVG Rn. 57; teilweise anders und damit nicht ganz auf der nun klargestellten Linie des Senats Bauer-Gerland, VersR 2020, 146; vgl. weiter § 2 Nr. 2 FZV). Es könne, anders als die Revision meine, auch nicht generell eine erhöhte Gefahr durch das Rückwärtsfahren angenommen werden. Da § 19 Abs. 4 StVG schon eine grundsätzliche Vermutung aufstelle, müssten besondere Umstände hinzutreten, etwa eine außergewöhnliche Beschaffenheit von Anhänger oder Gespann, wie beispielsweise Überlänge oder Überbreite oder Schwertransport. Darauf verweise auch die Gesetzesbegründung (a.a.O.). Denkbar wäre auch eine besondere Gefahr, wenn ein relevanter technischer Defekt vorliege.
So etwas sei indes weder festgestellt noch mache die Revision geltend, dass dahin gehender Vortrag übergangen worden sei. Allein die Tatsache, dass das Gespann hier konkret aus einem Lkw und einem Aufliegeranhänger bestehe, sorge noch nicht für eine erhöhte Gefährlichkeit. Im Übrigen bleibe offen, ob sich eine ggf. anzunehmende erhöhte Gefährlichkeit auch tatsächlich in dem Unfallgeschehen ausgewirkt habe.


C.
Kontext der Entscheidung
Der bisherige Bestand veröffentlichter Rechtsprechung zu der hier streitentscheidenden Frage ist vernachlässigenswert, insbesondere, wenn man die Vorgängerentscheidungen im Instanzenzug außer Betracht lässt. Vielfach werden Fälle wie dieser wohl auch zwischen den Versicherungsgesellschaften ausgehandelt, ohne ein Gericht einzuschalten, sofern es sich in der Praxis überhaupt um unterschiedliche Haftpflichtversicherer für Zugmaschine und Anhänger handelt. Erwähnenswert wäre vielleicht ein Hinweisbeschluss des OLG München vom 15.05.2023 (24 U 721/23 e - NJW-Spezial 2023, 459). Hier war das Gespann gar nicht in Bewegung, sondern wurde am Straßenrand stehend entladen. Auch hier haftet im Innenverhältnis der Versicherer der Zugmaschine allein, denn der Anhänger wirkte nicht gefahrerhöhend.
Allgemein gilt wohl, dass nicht vorschnell ein Eingreifen einer Ausnahme von § 19 Abs. 4 Satz 4 StVG angenommen werden kann. Ebenfalls mit einem Anhänger, aber einer nicht sehr verwandten Rechtsfrage befasst sich eine jüngere Entscheidung des VI. Zivilsenats des BGH, nämlich BGH, Urt. v. 07.02.2023 - VI ZR 87/22 - DAR 2023, 259. Hier geht es um die Haftung für einen Anhänger, der durch die Unfallverursachung eines Dritten gegen ein Gebäude rollt und dort einen Schaden verursacht, was nun gerade kein Fall eines Gespannes ist.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Gerichts-, Beratungs- und Regulierungspraxis bedeutet dies eine Klarstellung in einem ziemlich speziellen Regelungskontext, der aber dennoch eine quantitative Bedeutung hat, denn Anhängergespanne sind, gerade im Transportgewerbe, eine Alltäglichkeit auf deutschen Straßen und entsprechend häufig dürften auch Verkehrsunfälle sein. Die bisherigen Wortlautdiskussionen, ob ein „Ziehen“ auch eine „Schieben“ sein kann, hat der BGH nun geklärt (vgl. auch Heß/Burmann, NJW 2024, 1078, 1080; instruktiv methodisch dargestellt und bewertet wird der Fall bei Schrader, JA 2024, 421).



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