juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BGH 6. Zivilsenat, Beschluss vom 06.06.2023 - VI ZR 197/21
Autor:Dr. Michael Nugel, RA, FA für Verkehrsrecht und FA für Versicherungsrecht
Erscheinungsdatum:13.09.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 286 ZPO, § 287 ZPO, § 242 BGB, § 119 VVG
Fundstelle:jurisPR-VerkR 19/2023 Anm. 1
Herausgeber:Jörg Elsner, LL.M., RA und FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht
Dr. Klaus Schneider, RA und FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht
Zitiervorschlag:Nugel, jurisPR-VerkR 19/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Anforderungen zur Abgrenzung eines neu eingetretenen Schadens von einem unreparierten Altschaden



Leitsatz

Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Schadensersatzprozess.



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Der Tatrichter hat Einwendungen einer Partei gegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten, die auf Ausführungen eines Parteigutachters beruhen, unter Berücksichtigung der erleichterten Darlegungslast im Rahmen des § 287 ZPO durch eine ergänzende Stellungnahme des vom Gericht beauftragten Sachverständigen nachzugehen.
2. Stellt ein vom Gericht beauftragter Sachverständiger grundsätzlich einen zumindest teilweise unfallbedingten Schaden fest, ist eine Beweisaufnahme zur Höhe des unfallbedingen Schadens in Abgrenzung von den festgestellten unreparierten Altschäden fortzuführen, ohne dass zu hohe Anforderungen an den Sachvortrag des Geschädigten als Kläger gestellt werden dürfen.



A.
Problemstellung
Der BGH hatte über die Anforderungen an den Vortrag als Grundlage für einen weiteren Eintritt in die Beweisaufnahme zu entscheiden, wenn sich in einem Schadensersatzprozess herausstellt, dass nur ein geringer Teil der vom Geschädigten verfolgten Reparaturkosten einen kompatiblen Schaden darstellt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger hat die Beklagte als Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung nach einem Verkehrsunfall auf Schadensersatz in Anspruch genommen, nachdem auch der auf Beklagtenseite versicherte Lkw im Rahmen einer Vorbeifahrt den am Fahrbahnrand geparkten Pkw des Klägers beschädigt hat. Zwischen den Parteien war der Umfang des dadurch verursachten Schadens streitig und zur Aufklärung dieses Sachverhaltes wurde in der I. Instanz ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der vom Gericht beauftragte Sachverständige hat festgestellt, dass ein Großteil der von der Klägerseite auf Basis eines Privatgutachtens verfolgten und von einem Privatgutachter kalkulierten Schäden zur Reparatur des tatsächlich unfallbedingten Schadens nicht erforderlich gewesen ist. Im Privatgutachten des Klägers waren dagegen keine unreparierten Vorschäden angeführt worden. Zuzuordnen seien aus technischer Sicht als möglicher unfallbedingter Schaden nur ein kleiner Teil der Schadenspuren am Lkw – und zwar an der Klappe oberhalb der Ladebordwand und an der hinteren linken und rechten sog. „Eckrunge“. Die weiter gehenden Schäden im Bereich der Ladebordwand und anderen Bauteilen konnten dagegen dem Unfallereignis nicht zugeordnet werden.
Auf dieser Basis hatte das KG als Berufungsgericht ebenso wie das Landgericht der Klägerseite einen Schadensersatzanspruch insgesamt verwehrt und darauf hingewiesen, dass ein weiterer Eintritt in die Beweisaufnahme zur Schadenshöhe eine unzulässige Ausforschung darstellen würde. Der Kläger hatte sich dagegen darauf berufen, dass der von ihm beauftragte Sachverständige festgestellt habe, da es sich bei seinem Lkw als Nutzfahrzeug ein Spezialaufbau vorhanden gewesen sei, der nicht punktuell repariert, sondern nur durch einen vollständigen Neuaufbau hätte ersetzt werden können, um die Funktionsfähigkeit wieder herzustellen. Deshalb sei der gesamte Aufbau als Schaden zu kalkulieren und lediglich ein Abzug neu für alt als Wertverbesserung vorzunehmen.
Der BGH ist gleich unter zwei Gesichtspunkten von einem Gehörsverstoß des Berufungsgerichtes ausgegangen und hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Zum einen hätte das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs dadurch verletzt, dass dessen Ausführungen als Prozessbeteiligter unter Bezugnahme auf die Bewertung durch den eigenen Privatgutachter nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Insbesondere sei der Vortrag der Klägerseite, gestützt auf die Ausführungen des eigenen Sachverständigen, weiter zu beachten gewesen, wonach der gesamte Aufbau des Lkws zu erneuern gewesen sei. Es würde sich dabei um Einwendungen einer Partei gegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten handeln, die unter Vorlage eines Privatgutachtens erhoben worden seien und diesen Einwendungen hätte das Gericht nachgehen und den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Dafür könnte der gerichtliche Sachverständige entweder schriftlich zu einer Ergänzung des Gutachtens aufgefordert werden oder zu einer Anhörung in einem Gerichtstermin geladen werden – wenn der Sachverständige dann auf die Nachfragen des Gerichts die verbleibenden Einwendungen nicht ausräumen könnte, müsste der Tatrichter sogar im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachverhaltsaufklärung ggf. ein weiteres Sachverständigengutachten einholen.
Zum anderen hätte das Berufungsgericht auch verkannt, dass die anzuwendende Vorschrift des § 287 ZPO dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern auch die damit verbundene Darlegung erleichtern würde. Daher dürften die Anforderungen an einen weiteren Eintritt in die Beweisaufnahme in Abgrenzung zu einem unzulässigen Ausforschungsbeweis nicht zu hoch angesetzt werden. Unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrages zu den Ausführungen des von der Klägerseite eingeschalteten Gutachters hätte auch insoweit weiter in die Beweisaufnahme eingetreten werden müssen, zumal der vom Gericht beauftragte Sachverständige von sich aus schon eine Abgrenzung zwischen einem unfallbedingten Schaden und unreparierten Altschäden vorgenommen hätte.


C.
Kontext der Entscheidung
Der BGH hatte sich erneut mit der sog. „Vorschadenproblematik“ und den Anforderungen an einen Tatsachenvortrag als Revisionsgericht zu befassen und hat hierzu eine weitere weitreichende Entscheidung getroffen. Damit diese rechtlich zutreffend eingeordnet werden kann, sind die beiden grundlegenden Fallgruppen bei der Betrachtung von Vorschäden und die damit verbundenen Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast zu unterscheiden: Zum einen geht es um die Fallgruppe, bei denen der Geschädigte selbst das Vorhandensein eines Vorschadens einräumt bzw. ein solcher Vorschaden durch Vorlage von Privatgutachten (ggf. auch aus der Vorbesitzzeit des Klägers) nachgewiesen wird und Streit darüber besteht, mit welcher Qualität und in welchem Umfang eine insoweit durchgeführte Reparatur tatsächlich stattgefunden hat. Davon zu unterscheiden ist die Fallgruppe, bei der ein Vorschaden als Altschaden gar nicht repariert wird und aus technischer Sicht in der Regel von einem neu eingetretenen Schaden auch ohne weitere Angaben zum Umfang des unreparierten Vorschadens abzugrenzen ist.
1. Bei der ersten Fallgruppe der reparierten Vorschäden wiederum ist zwischen Schäden in einem überlagernden Bereich und Schäden an anderen Komponenten zu differenzieren. Bei Schäden in einem überlagernden Bereich geht es in der Regel um die Prüfung, ob tatsächlich Neuteile eingebaut worden sind und deshalb auch der Anspruch auf den Einbau von neuen Ersatzteilen besteht, wie dies regelmäßig in dem Privatgutachten zu dem angeblich neu eingetreten Schaden auch (erneut) kalkuliert wird. Werden dagegen keine Neuteile bei der Reparatur und auch kein (u.U. gleichwertiges) Gebrauchtteile eingesetzt, sei der Geschädigte unzulässig bereichert, wenn er jetzt wieder Neuteile (fiktiv) abrechnen könnte. Und bei Vorschäden in einem nicht überlagernden Bereich geht es dagegen um die Prüfung, welche Auswirkungen sich aus der Reparatur des Vorschadens auf den Wiederbeschaffungswert des Kfz ergeben. Dazu gehört insbesondere die Prüfung, ob auch bei einer fachgerechten Reparatur ein Minderwert verbleibt oder gar Abzüge in Höhe weiterer Reparaturkosten vorzunehmen sind, weil z.B. sicherheitsrelevante Reparaturen wie die Beseitigung eines Achsschadens nicht (fachgerecht) vorgenommen wurden (vgl. auch den Überblick bei Nugel, ZfSch 2020, 490 ff. m.w.N.). Insbesondere, dann wenn es sich dabei um einen Schaden aus der Vorbesitzzeit handelt, kann dem Geschädigten, der über das Vorhandensein eines solchen Vorschadens getäuscht worden ist, auch nicht verwehrt werden, dass durch eine Beweisaufnahme aufgeklärt wird, ob und in welchem Umfang und mit welcher Qualität ein solcher Vorschaden repariert worden ist – und zwar ohne dass der Geschädigte hierzu einen weiteren konkreten Tatsachenvortrag erbringen muss (grundlegend: BGH, Urt. v. 15.10.2019 - VI ZR 377/18 - NJW 2020, 393). Handelt es sich dagegen um einen Schaden aus der eigenen Besitzzeit, kann auch unter Berücksichtigung der erleichterten Darlegungs- und Beweislast des § 287 ZPO vom Geschädigten zumindest ein Mindesttatsachenvortrag zu der von ihm durchgeführten Reparatur als Grundlage für den Eintritt in die Beweisaufnahme gefordert werden (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 04.05.2021 - I-9 U 125/20; OLG Frankfurt, Urt. v. 24.11.2020 - 8 U 45/20; OLG Köln, Beschl. v. 05.01.2021 - 17 U 62/19; OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.03.2021 - I-1 U 72/20). In jedem Fall liegt die Darlegungs- und Beweislast für die Beseitigung eines Vorschadens beim Geschädigten (BGH, Urt. v. 15.10.2019 - VI ZR 377/18 - NJW 2020, 393; Böhm/Nugel, DAR 2011, 666).
2. Bei dem vom BGH entschiedenen Fall geht es jedoch um die Abgrenzung eines unreparierten Altschadens zu einem neu eingetretenen Schaden. Insoweit wurde vom Geschädigten das Vorhandensein eines Altschadens insgesamt (wahrheitswidrig) in Abrede gestellt. Es handelt sich hier um die zweite Konstellation, die bei der Beurteilung der sog. „Vorschadenproblematik“ von besonderer Bedeutung und von der oben genannten ersten Fallgruppe zu unterscheiden ist. Hier geht es im Wesentlichen um eine technische Abgrenzung, die im Regelfall einem Sachverständigen ohne Weiteres möglich ist, um zwischen fortbestehenden unreparierter Vorschäden (aus technischer Sicht in einem Sachverständigengutachten regelmäßig als Altschäden bezeichnet) einerseits und dem Eintritt eines neuen unfallbedingten Schadens anderseits zu unterscheiden. Auch insoweit ist zu beachten, dass die Klägerseite nach den Vorgaben des BGH die entsprechende Beweislast trägt. Wenn aus technischer Sicht eine solche Abgrenzung vorgenommen wird, bleibt abschließend zu entscheiden, wie dieser so weit wie möglich aufgeklärte Sachverhalt sodann juristisch zu bewerten ist.
Auf Grundlage des im Tatbestand angeführten Sachverhalts dürfte insoweit der vom BGH zurückverwiesene Fall aber auch einfach zu lösen sein. Denn schon nach dem eigenem Tat-sachenvortrag der Klägerseite handelt es sich bei dem beschädigten Bauteil des Lkw um einen Aufbau, der nach den Vorgaben des Herstellers nur als ganzes Teil ausgetauscht werden kann. Auch steht nach dem eingeholten Sachverständigengutachten im Auftrag des Gerichts fest, dass in einem ganz erheblichen und überwiegenden Umfang nicht kompatible Schäden vorhanden gewesen sind, die nicht nach dem Unfall eingetreten sind, sondern – so dürfte der Fall zu verstehen sein – vorher vorhanden gewesen sind und daher auch in dem eigenen Gutachten des Klägers dokumentiert und als angeblich neu eingetretener Schaden eingefordert worden sind. Wenn aber nun schon die überschaubaren, nach dem Gerichtsgutachten kompatiblen Schäden, die dem Unfallmechanismus zugeordnet werden können, nach dem eigenen Sachvortrag des Klägers einen solchen Austausch rechtfertigen sollen, dann liegt es nahe, dass dies erst recht bei den anderen schon vor dem Unfall eingetretenen schwerwiegenderer Schäden am Aufbau der Fall ist. Hieraus ergibt sich, dass die unreparierten Vorschäden als Altschäden es bereits für sich gesehen erfordern, dass der gesamte Aufbau auszutauschen ist. Dann fehlt es aber an einer wirtschaftlichen Schadensvertiefung, weil auch ohne das Unfallereignis schon ein kompletter Einbau eines Neuteils geboten gewesen ist – dies sogar auch nach dem eigenen klägerischen Sachvortrag. Für diese Fallgruppe stellt sich daher gerade nicht die Frage eines Abzugs alt für neu, sondern es fehlt bei der gebotenen juristischen Betrachtung an einer wirtschaftlichen Schadensvertiefung (im Überblick Nugel, ZfSch 2020, 490 ff.). War nämlich bereits vor dem Unfall ein Fahrzeugteil derart erheblich beschädigt, dass es zur Schadensbeseitigung ausgewechselt bzw. lackiert werden musste, führt ein weiterer Schaden an diesem Fahrzeugteil zu keiner wirtschaftlich relevanten Schadensvertiefung und es besteht keine Ersatzverpflichtung, da ansonsten der Geschädigte besser als vor dem Unfall gestellt würde (OLG Düsseldorf, Urt. v. 06.09.2011 - I-1 U 2/11; AG Essen, Urt. v. 15.03.2017 - 20 C 365/15; AG Gelsenkirchen, Urt. v. 06.10.2015 - 200 C 166/14; AG Herne, Urt. v. 20.01.2015 - 34 C 199/13; AG Bocholt, Urt. v. 13.08.2015 - 4 C 140/14; AG Berlin-Mitte, Urt. v. 01.10.2013 - 3 C 3341/11 - Schaden-Praxis 2014, 131; Grunewald/Nugel, Schaden-Praxis 2013, 293 ff.).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Ungeachtet dieser Besonderheiten dieses zurückverwiesenen Einzelfalls ist immer genau zu prüfen, wie bei einer solchen Konstellation prozessual weiter vorzugehen ist und welche juristische Würdigung bei derartigen Fällen als Abschluss vorzunehmen sein wird.
1. Die Vorgabe des BGH lässt zumindest für dieser Fallgruppe der unreparierten Altschäden die Tendenz erkennen, dass der Sachverhalt im Regelfall so weit wie möglich aufgeklärt werden muss und dies auch keinen konkreten weiteren Tatsachenvortrag des Geschädigten erfordert, wenn dieser sich auf Ausführungen des eigenen Parteigutachters stützt. Dies trägt im Übrigen auch dem Umstand Rechnung, dass die Parteien nicht über den Umfang einer tatsächlich durchgeführten Reparatur bei Vorschäden streiten, sondern es um die technisch ohne weiteres mögliche Abgrenzung zwischen unreparierten Altschäden einerseits und dem neu eingetretenen Schaden andererseits geht. Diesbezüglich war es auch schon gängige Praxis, dass unter Berücksichtigung der beim Geschädigten liegenden Beweislast in die Beweisaufnahme zum Umfang eines unfallbedingten Schadens nach dem Beweismaßstab des § 287 ZPO eingetreten wird. Unterschiedlich gehandhabt wurde bisher allerdings die Bewertung, welche Anforderungen an den Tatsachenvortrag beim Geschädigten zu stellen sind, wenn sich durch ein Sachverständigengutachten herausstellt, dass längst nicht alle geltend gemachten Schäden auf dem Unfallereignis beruhen.
Insoweit war es in der Rechtsprechung aber auch durchaus üblich, in zwei Schritten vorzugehen und erst einmal (lediglich) aufzuklären, ob und in welchem Umfang überhaupt ein unfallbedingter Schaden eingetreten ist. Sodann wurde je nach den Umständen des Einzelfalls entschieden, ob und in welchem Umfang ein weiterer Tatsachenvortrag des Geschädigten erwartet werden kann, damit die Beweisaufnahme fortgesetzt wird. Dahinter steht die Überlegung, dass bei fehlendem näheren Angaben des unredlichen Geschädigten zu einem nicht kompatiblen Vorschaden eine Abgrenzung zwischen Vorschaden und angeblichem Neuschaden nicht möglich und die Klage abzuweisen ist, wenn sich nunmehr gar nicht alle Schäden als geschlossene Lösung aus dem behaupteten Vorgang nicht ableiten lassen (OLG Hamm, Urt. v. 15.10.2013 - 9 U 53/13; OLG Köln, Beschl. v. 22.08.2011 - I-22 U 199/10 - Schaden-Praxis 2012, 135; LG Krefeld, Urt. v. 23.04.2015 - 3 O 202/13; LG Duisburg, Urt. v. 04.10.2012 - 12 S 20/12).
Dieser Lösungsweg dürfte in der Praxis nunmehr in den Hintergrund treten, wenn der Geschädigte nach diesen Vorgaben des BGH jedenfalls einen Anspruch auf eine weitestgehende Sachverhaltsaufklärung hat, soweit er sich (weiterhin) auf einen unfallbedingten Schaden beruft. Allerdings ist hier auch zu berücksichtigen, dass der Kläger in dem Fall des BGH auch einen weiteren Tatsachenvortrag geleistet hat, in dem er sich nach Beratung durch einen eigenen Sachverständigen darauf berufen hat, dass der gesamte Aufbau seines Fahrzeuges schon bei dem kleineren, neu eingetretenen Schaden komplett auszutauschen gewesen ist. Dies hatte augenscheinlich der vom Gericht beauftragte Sachverständige in dem vom BGH zu beurteilenden Fall noch nicht ausreichend berücksichtigt und dann liegt es in der Tat auf der Hand, dass hier in die Beweisaufnahme weiter einzutreten ist. Allerdings liegt wie schon ausgeführt das Ergebnis nahe, dass es hier mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer wirtschaftlichen Schadensvertiefung fehlen wird. Dieser Gesichtspunkt dürfte bei dem zuerst eingeholten gerichtlichen Gutachten noch nicht abschließend geklärt worden sein, so dass hier der weitere Eintritt in die Beweisaufnahme auch nur konsequent ist.
2. Im Übrigen ist zu berücksichtigten, dass derartige Erkenntnisse aus einem gerichtlichen Sachverständigengutachten auch andere Auswirkungen haben können: Denn der Geschädigte hat natürlich erst einmal frei von Zweifeln nach dem Maßstab des § 286 ZPO überhaupt zu beweisen, dass es durch das Unfallereignis zu einer Verletzung eines ihm gehörenden Rechtsgutes gekommen ist. Die Frage der Abgrenzung, ob eine wirtschaftliche Schadensvertiefung vorliegt oder nur ein Abzug neu für alt geboten ist, ergibt sich im nächsten Schritt sodann nach dem Beweismaßstab des § 287 ZPO. Wenn es allerdings hierfür die Voraussetzung ist, dass überhaupt ein Zusammenstoß zwischen dem auf der Beklagtenseite versicherten Lkw und dem klägerischen Fahrzeug nachgewiesen wird, obliegt diese Beweislast auch dem Kläger, und hier greift der Beweismaßstab des § 286 ZPO bei dem Nachweis einer Rechtsgutsverletzung ein. Sollten beispielsweise die vom Kläger angeführten Zeugen unreparierte Altschäden wahrheitswidrig verschwiegen haben, obwohl diese Schäden im Alltagsbetrieb gut zu erkennen gewesen sind und auch durch andere Fahrzeuge ebenso gut hervorgerufen werden können, kann dies weitere Auswirkungen haben: Ist nämlich schon eine Kollision zwischen den Kfz bei einer Vorbeifahrt streitig, müsste diese durch den Kläger nachgewiesen werden und dieser Nachweis wird mit den Aussagen von Zeugen, die zu anderen Tatsachen nachweislich gelogen haben, nur schwer möglich sein.
Aber auch im Rahmen des § 287 ZPO verleibt die Beweislast bei dem nachweislich unredlichen Geschädigten, der zumindest teilweise Altschäden wahrheitswidrig verschwiegen hat, und verbleibende Zweifel gehen zu seinen Lasten. Insoweit ist genau zu prüfen, ob tatsächlich ausgeschlossen werden kann, dass auch dieser grundsätzlich technisch kompatible Teilschaden keinem anderen Ereignis als dem hiesigen Unfall zugeordnet werden kann (OLG Hamm, Beschl. v. 24.02.2015 - I-9 U 139/14; OLG Dresden, Beschl. v. 27.11.2015 - 6 U 1573/15). Beispielsweise kann es bei dem Sturz eines Motorrads als Unfallfolge ebenso möglich sein, dass es sich um Altschäden aus anderen Stürzen handelt – wenn der Geschädigte bei einem solchen Fall ohnehin überwiegend Schäden verfolgt, die nicht auf dem Unfall beruhen, kann auch bei geringfügigen verbleibenden möglicherweise kompatiblen Schäden nicht nach dem Maßstab des § 287 ZPO von einem neu eingetretenen Schaden ausgegangen werden – denn für diese Sturzschäden kommen dann auch wieder ganz andere Ereignisse in Frage (vgl. auch LG Bochum, Urt. v. 22.06.2021 - I-8 O 227/19 bestätigt durch OLG Hamm, Hinweisbeschluss aus der mündlichen Verhandlung v. 20.05.2022 - I-26 U 1332/21).
3. Steht allerdings ein grundsätzlich kompatibler Schaden fest, der dem Kontakt eines anderen auf der Schädigerseite versicherten Fahrzeuges zuzuordnen ist, stellt sich für die Juristen die Frage, wie mit diesem Sachverhalt und insbesondere dem wahrheitswidrigen Vortrag der Klägerseite umzugehen ist.
Im Bereich der Kaskoversicherung ist unter Berücksichtigung eines Vertragsverhältnisses der „Lösungsweg“ für den betroffenen Kaskoversicherer deutlich einfacher: Im Regelfall hat er die vertragliche Obliegenheit vereinbart, dass ihm gegenüber auf berechtigte Nachfragen alle Vorschäden entsprechend anzugeben sind und dies erfasst natürlich auch unreparierte Altschäden. Erfolgt insoweit eine falsche Auskunft, wird im Regelfall eine Leistungsfreiheit wegen einer arglistigen Obliegenheitsverletzung gegeben sein (OLG Hamm, Beschl. v. 07.12.2018 - I-20 U 64/18; OLG Saarbrücken, Urt. v. 30.04.2008 - 5 U 614/07 - VersR 2008, 1643). Dabei geht der BGH übrigens auch so weit, dass sich im Ausnahmefall auch ohne eine solche wirksame Vereinbarung einer Obliegenheit bzw. einer sich aus der Obliegenheit ergebenden Rechtsfolge eine Leistungsfreiheit des Versicherers ergeben kann, wenn hier eine besonders schwere Treuepflichtverletzung im Rahmen des Versicherungsvertrags vorliegt: So kann ein Versicherungsnehmer, der täuschende Angaben über den erlittenen Schaden macht, den Anspruch auf die Versicherungsleistung auch dann verwirken, wenn diese Rechtsfolge im Versicherungsvertrag nicht vereinbart worden ist (BGH, Urt. v. 08.07.1991 - II ZR 65/90 - MDR 1992, 236 für den Fall einer arglistigen Täuschung; BGH, Urt. v. 14.10.1987 - IVa ZR 29/86 - MDR 1988, 208 für den Fall eines kollusiven Zusammenwirkens). Dies gilt jedenfalls als besondere Ausnahme für die Fälle, in denen es für den Versicherer aufgrund eines besonderen Fehlverhaltens der Versicherungsnehmerseite unzumutbar ist, sich an der Erfüllung der von ihm übernommenen Vertragspflichten festhalten zu lassen. Erforderlich ist dabei eine Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls, in die vor allem das Maß des Verschuldens, die Motivation des Versicherungsnehmers, der Umfang der Gefährdung der schützenswerten Interessen des Versicherers, die Folgen des Anspruchsverlustes für den Versicherungsnehmer und das Verhalten des Versicherers einzubeziehen sind.
Mit einem ganz ähnlichen Gedankengang ist zumindest in Teilen der Rechtsprechung bei einer solchen Konstellation im Ausnahmefall davon ausgegangen worden, dass der Geschädigte auch im Rahmen eines gesetzlichen Schuldverhältnisses einen Schadensersatzanspruch nach § 242 BGB verwirkt haben kann: Nach dieser Ansicht hat ein Anspruchsteller seinen Schadensersatzanspruch verwirkt, wenn er von Anfang an einen erheblichen nicht unfallbedingten Schaden verfolgt, dies durch ein Sachverständigengutachten im Prozess entdeckt wird und damit erwiesen ist, dass durch den Anspruchssteller von Anfang an gezielt ein nicht reparierter Altschaden verschwiegen worden ist (LG Essen, Urt. v. 31.05.2019 - 1 O 251/17; LG Münster, Urt. v. 08.08.2014 - 11 O 279/11 - NJW Spezial 2014, 618; LG Münster, Urt. v. 23.04.2014 - 2 O 462/11 - NJW-RR 2014, 1498; bestätigt durch OLG Hamm, Beschl. v. 21.12.2018 - 26 U 172/18).
Dafür spricht, dass auch bei einem Verkehrsunfall die Parteien durch ein Schuldverhältnis miteinander verbunden sind – zwar kein vertragliches mit besonderen Treue- und Rücksichtnahmepflichten, aber eben ein gesetzliches Schuldverhältnis. Dies zeigt sich beispielsweise auch dadurch, dass (was in der Praxis selten beachtet wird) den Geschädigten auch die Verpflichtung trifft, auf berechtigte Nachfragen des Kraftfahrzeughaftpflichtversicherers weitere Auskünfte zu möglichen Vorschäden zu erteilen und damit verbundene Unterlagen nach § 119 Abs. 3 VVG vorzulegen. Steht nun fest, dass der Geschädigte gezielt mit Täuschungsabsicht ihm bekannte unreparierte Vorschäden verschwiegen hat, um sich ungerechtfertigt zu bereichern und handelt es sich dabei um ganz erhebliche Schäden außerhalb des Bagatellbereichs, deren Aufdeckung auch für den Versicherer und damit die Versichertengemeinschaft mit einem erheblichen Aufwand verbunden gewesen ist kann unter Berücksichtigung all dieser Umstände durchaus bei einer besonders schwerwiegenden Treuepflichtverletzung mit guten Argumenten davon ausgegangen werden, dass der Geschädigte insgesamt einen Schadensersatzanspruch verwirkt hat. Dabei liegt natürlich auch auf der Hand, dass nicht jedes Verschweigen eines Vorschadens quasi als „Automatismus“ zu einer solchen Verwirkung mit der Folge der Ablehnung eines Anspruches insgesamt führen kann. Allerdings darf den Geschädigten in dieser Situation unter Berücksichtigung des bestehenden gesetzlichen Schuldverhältnisses auch kein „Freibrief“ ausgestellt werden, es bei Gericht einmal „zu versuchen“, um einen in der Sache im Wesentlichen unberechtigten Schadensersatzanspruch so weit wie möglich durchzusetzen und erst einmal alle anderen Beteiligten einschließlich des Gerichts und die Versichertengemeinschaft über ihm gut bekannte Altschäden gezielt zu täuschen. Je nach der Schwere des Verschuldensgrades und insbesondere in den Fällen eines offenkundigen Prozessbetruges mit ganz erhebliche Auswirkungen wegen verschwiegener Altschäden, die schon einen Großteil der Klagforderung zu Fall bringen, dürfte es auch weiterhin zu begrüßen sein, in diesem besonderen Fall die Grundsätze der Verwirkung eingreifen zu lassen.



Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!