Berufsunfähigkeitsversicherung: Darlegung einer Raubbautätigkeit und StichtagsprinzipOrientierungssätze zur Anmerkung 1. Bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit liegt nicht nur dann vor, wenn der Versicherungsnehmer infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls nicht mehr zur Fortsetzung seiner zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit imstande ist. Sie ist auch anzunehmen, wenn Gesundheitsbeeinträchtigungen eine Fortsetzung der Berufstätigkeit unzumutbar erscheinen lassen. Letzteres kann der Fall sein, wenn sich die fortgesetzte Berufstätigkeit des Versicherungsnehmers angesichts einer drohenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes als Raubbau an der Gesundheit und deshalb überobligationsmäßig erweist. 2. Hat der Versicherungsnehmer bereits ausreichend zu den Auswirkungen seiner Gesundheitsbeeinträchtigungen auf die beruflichen Tätigkeiten vorgetragen, so trifft ihn für den Fall, dass er auch nach dem behaupteten Eintritt der Berufsunfähigkeit weitergearbeitet hat, bezogen auf diesen Zeitraum keine zusätzliche Darlegungslast, gesundheitliche Beeinträchtigungen vorzutragen, die ihn hieran gehindert hätten. 3. Behauptet der Versicherungsnehmer, ab einem bestimmten Stichtag berufsunfähig zu sein (hier: seit dem 01.01.2015), umfasst das die Behauptung, dauerhaft seit diesem Zeitpunkt berufsunfähig zu sein. In diesem Fall kann die Ablehnung eines Leistungsanspruchs nicht allein darauf gestützt werden, die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit hätten zum Stichtag nicht vorgelegen. Das Gericht muss vielmehr auch prüfen, ob eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit zu einem Zeitpunkt nach dem Stichtag vorgelegen hat. - A.
Problemstellung Die Anforderungen an die Darlegungslast des Versicherungsnehmers, der gerichtlich Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung geltend macht, sind hoch und umfassen auch Ausführungen zu den Auswirkungen der Gesundheitsbeeinträchtigungen auf die beruflichen Tätigkeiten. Der BGH äußert sich zu der Thematik, ob den Versicherungsnehmer zusätzliche Anforderungen treffen, wenn er nach dem behaupteten Eintritt der Berufsunfähigkeit weiterarbeitet und eine überobligatorische Berufsfortführung („Raubbau“ an der Gesundheit) in Betracht kommt. Zudem beschäftigt sich die Entscheidung in einem obiter dictum (= „bei Gelegenheit“ erfolgende Ausführungen, die über das Erforderliche hinausgehen und auf denen das Urteil dementsprechend nicht beruht) mit dem sog. Stichtagsprinzip, d.h. dem Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit und dessen Auswirkungen auf den Prüfungsumfang der Gerichte.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der Versicherungsnehmer arbeitete als Schweißer und meldete bei dem Versicherer eine Berufsunfähigkeit seit dem 01.01.2015 an. Der Versicherungsvertrag enthält sowohl eine Klausel zur fingierten Berufsunfähigkeit („Ist die versicherte Person sechs Monate ununterbrochen… außerstande gewesen …“) als auch die gebräuchliche „Allgemein-Definition“ der Berufsunfähigkeit („… voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen außerstande …“). Der Versicherer prüfte und lehnte schließlich die Einstandspflicht mangels Nachweises einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit ab und verwies den Versicherungsnehmer auf eine inzwischen neu ausgeübte Tätigkeit. Landgericht und Oberlandesgericht wiesen die erhobene Klage ab. Das OLG begründet dies zusammengefasst damit, der Versicherungsnehmer habe hinsichtlich der beiden Varianten der Berufsunfähigkeit nicht ausreichend zu seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf die beruflichen Tätigkeiten vorgetragen. Es sei nicht klar geworden, wie sich die Gesundheitsbeeinträchtigungen auf die Fähigkeit ausgewirkt hätten, die im Beruf anfallenden Verrichtungen auszuführen. Außerdem habe der Versicherungsnehmer auch nach dem behaupteten Eintritt der Berufsunfähigkeit gearbeitet und bezogen auf diesen Zeitraum keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgetragen, die ihn hieran gehindert hätten. Außerdem begründet das OLG die Abweisung damit, dass die vom Versicherungsnehmer beantragte körperliche Untersuchung (also die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu den gesundheitlichen Aspekten) „schon deshalb unergiebig sei, weil auf einer solchen Grundlage eine Sechs-Monats-Prognose zum 1. Januar 2015 im Hinblick auf den nach § 286 ZPO erforderlichen Beweismaßstab nicht retrospektiv gestellt werden dürfte“ (so die Angaben des BGH in seiner Entscheidung). Der Versicherungsnehmer legte gegen die vom OLG nicht zugelassene Revision Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH ein. Mit Erfolg! Der BGH hält die Beschwerde für begründet und verweist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück. Der Senat rügt eine Gehörsverletzung, die darin liege, dass das OLG in den Entscheidungsgründen auf wesentlichen Vortrag des Klägers zu einer zentralen Frage des Verfahrens nicht eingegangen sei. Insoweit komme es für die Berufsunfähigkeit nicht nur darauf an, ob der Versicherte außerstande gewesen sei, den Beruf auszuüben, sondern auch auf eine drohende Verschlechterung des Gesundheitszustandes durch einen Raubbau an der Gesundheit bei Weiterarbeit (was auch das OLG grundsätzlich zutreffend erkannt habe). Das OLG habe sich insoweit nicht damit auseinandergesetzt, dass der Versicherungsnehmer schon erstinstanzlich Augenbeschwerden beim Schweißen auch für den Zeitraum, in welchem er sich für berufsunfähig hält, vorgetragen habe (dies wird vom BGH ausführlich mit Angaben aus dem Klägervortrag dargestellt). Da es nicht auszuschließen sei, dass das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens zu einer anderen Entscheidung gelangt sei, handle es sich auch um eine entscheidungserhebliche Gehörsverletzung, so der BGH. In einem obiter dictum gibt der BGH dem OLG an die Hand, dass es nicht nur auf den Stichtag der behaupteten Berufsunfähigkeit ankommt, sondern auch auf dem Zeitraum danach, weil die Behauptung, dauerhaft berufsunfähig zu sein, dies impliziert.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Ausführungen des BGH zur Gehörsverletzung betreffen hinsichtlich des übergangenen Vortrags allein den individuellen Fall und sind nicht verallgemeinerungsfähig. Offensichtlich hatten LG und OLG tatsächlich aus unbekannten Gründen übersehen, dass der Versicherungsnehmer zu Augenproblemen bei Schweißarbeiten vorgetragen hatte. Möglicherweise – für Details müsste man die LG- und OLG-Entscheidung lesen – wurde der Fokus zu sehr darauf gelegt, dass der Versicherungsnehmer weitergearbeitet hatte und deshalb unterstellt, dass noch detaillierter zu den gesundheitlichen Problemen und deren Auswirkungen vorgetragen werden müsse - ohne dann den möglichen gesundheitlichen Raubbau entsprechend zu würdigen. Die knappen Ausführungen zum Raubbau enthalten nichts Neues. Der Versicherungsnehmer kann seinen Beruf auch dann nicht mehr ausüben, wenn er zwar noch tätig ist oder sein kann, das zu Leistende aber als überobligationsmäßig zu betrachten ist, weil die festgestellte Gesundheitsbeeinträchtigung die Fortsetzung der Tätigkeit vernünftigerweise und im Rahmen der Zumutbarkeit nicht mehr gestattet, sog. Raubbau (BGH, Beschl. v. 11.07.2012 - IV ZR 5/11 - VersR 2012, 1547 = RuS 2013, 33; BGH, Urt. v. 30.11.1994 - IV ZR 300/93 - VersR 1995, 159; BGH, Urt. v. 27.02.1991 - IV ZR 66/90 - VersR 1991, 450: Revierförster, der schwere Medikamente nimmt, die ihn schädigen, um trotz BU seinen Beruf weiter auszuüben; OLG Saarbrücken, Urt. v. 05.04.2023 - 5 U 43/22; OLG Hamm, Urt. v. 11.12.2019 - 20 U 110/19; OLG Saarbrücken, Urt. v. 08.12.2010 - 5 U 8/10 - 1, 5 U 8/10 - RuS 2011, 485 m. Anm. Neuhaus, jurisPR-VersR 8/2011 Anm. 3; OLG Karlsruhe, Urt. v. 19.05.1982 - 12 U 190/81 - VersR 1983, 281: Grundschullehrerin, die trotz Stimmbandlähmung zeitlich reduziert weiter unterrichtet). Voraussichtlich dauernde erhebliche Schmerzen braucht der Versicherte nicht zu ertragen (BGH, Urt. v. 12.12.1990 - IV ZR 163/89 - VersR 1991, 451; OLG Saarbrücken, Urt. v. 07.04.2017 - 5 U 32/14 - VersR 2018, 923; OLG Saarbrücken, Urt. v. 28.05.2014 - 5 U 355/12 - VersR 2015, 226). Eine Berufsunfähigkeit kann also auch dann vorliegen, wenn Gesundheitsbeeinträchtigungen eine Fortsetzung der Berufstätigkeit unzumutbar erscheinen lassen, etwa wenn die Erkrankung einer Weiterarbeit vordergründig zwar nicht im Wege steht, dem Versicherten dabei aber infolge einer durch die Erkrankung indizierten Medikamenteneinnahme (hier: Marcumar) ernsthafte weitere Gesundheitsgefahren drohen (BGH, Beschl. v. 11.07.2012 - IV ZR 5/11). Bei solchen hypothetischen Verläufen ist es aber erforderlich, dass ein Mindestmaß an Prognosesicherheit im Sinne einer rational begründbaren Vorhersehbarkeit besteht. Ist bei einem Schweißer, der Marcumar-Patient ist (blutverdünnendes Medikament) und auf Leitern und Gerüsten in Höhe von bis zu sechs Metern arbeiten muss, zwar klar, dass bei einem Sturz eine erhöhte Gefahr des Verblutens besteht (etwa wegen innerer Blutungen), fehlt es aber an einer gesteigerten Sturzgefahr an sich (nur „allgemeines Lebensrisiko“ eines Sturzes), kann eine Unzumutbarkeit nicht angenommen werden (BGH, Beschl. v. 11.07.2012 - IV ZR 5/11). Zudem muss die Unzumutbarkeit einen spezifischen Zusammenhang mit den gerade durch die Tätigkeit verbundenen Gefahren aufweisen, es darf daher auch hier nicht nur eine Realisierung des allgemeinen Lebensrisikos drohen, da die Absicherung solcher Risiken nicht Vertragszweck ist (OLG Saarbrücken, Urt. v. 11.02.2015 - 5 U 20/13 - ZfSch 2016, 283; OLG Saarbrücken, Urt. v. 08.12.2010 - 5 U 8/10 - 1, 5 U 8/10. Eine faktische Weiterarbeit, insbesondere vollschichtig, spricht gegen Raubbau (OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.02.2020 - 11 W 10/19 m.w.N.), was aber nicht bedeutet, dass das Gericht von vornherein Raubbau verneinen darf (vgl. dazu die aktuelle BGH-Entscheidung). Die Beweislast für diejenigen Umstände, aus denen sich eine Unzumutbarkeit im Sinne eines Raubbaus ergeben soll, trägt der Versicherungsnehmer (BGH, Beschl. v. 11.07.2012 - IV ZR 5/11 Rn. 4; OLG Saarbrücken, Urt. v. 05.04.2023 - 5 U 43/22; OLG Hamm, Urt. v. 11.12.2019 - 20 U 110/19). Im obiter dictim spricht der BGH das sog. Stichtagsprinzip an. Danach obliegt es dem Versicherungsnehmer, einen konkreten Zeitpunkt zu benennen und vorzutragen, zu dem er meint, dass die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit eingetreten ist (vgl. dazu BGH, Urt. v. 12.01.2000 - IV ZR 85/99 - VersR 2000, 349; OLG Zweibrücken, Urt. v. 15.01.2014 - 1 U 190/12; OLG Saarbrücken, Urt. v. 28.05.2014 - 5 U 355/12 - VersR 2015, 226). Dies hat der gerichtliche Beweisbeschluss zu berücksichtigen (BGH, Beschl. v. 20.06.2007 - IV ZR 3/05 - VersR 2007, 1398 m.w.N.; OLG Saarbrücken, Urt. v. 06.02.2013 - 5 U 106/10 - 18 - VersR 2014, 1491).
- D.
Auswirkungen für die Praxis Die „Musik des Falles“ spielt in zwei Bereichen: Zum einen – etwas versteckt – zur Darlegungslast des Versicherungsnehmers bei Weiterarbeit und möglichem Raubbau und zum anderen im obiter dictum zum Prüfungsumfang beim Stichtagsprinzip. Die nicht ausdrücklich, aber incidenter formulierte Aussage des BGH, dass der Versicherungsnehmer bezüglich des Raubbaus nicht mehr weiter zu den Auswirkungen seiner Gesundheitsbeeinträchtigungen auf die beruflichen Tätigkeiten vortragen muss, ist beizupflichten. Insbesondere muss – anders als es das OLG annahm – bezogen auf den Raubbau-Zeitraum nicht noch zusätzlich dargelegt werden, ob und welche Beschwerden an sich eine Weiterarbeit gehindert hätten. Denn würde man dies verlangen, wäre das salopp ausgedrückt „doppelt gemoppelt“, weil der Versicherungsnehmer, der bereits vorgetragen hat, wie sich Symptome oder Beschwerden auf seine Arbeitsschritte ausgewirkt haben, nun noch einmal schildern müsste, ob und wie sie sich zum (späteren) Zeitpunkt der Weiterarbeit darstellten. Das wäre überzogen, und auf solchen fehlenden Vortrag darf eine Klageabweisung nicht gestützt werden. Die Aussagen im obiter dictum sind nicht nachvollziehbar. Nimmt man sie für bare Münze, „kippt“ der BGH damit das Stichtagsprinzip und hält die Gerichte und letztlich auch die Versicherer an, die Berufsunfähigkeit nicht nur bezogen auf den Stichtag zu prüfen, sondern auf jeden in Betracht kommenden Zeitpunkt danach. Es ist zwar insoweit richtig, dass die Stichtagsangabe des Versicherungsnehmers impliziert, dass er sich für dauerhaft berufsunfähig (im Sinne der Definition der Dauer in den Versicherungsbedingungen) hält. Das bedeutet aber nicht, dass der Versicherungsnehmer vortragen will, die Berufsunfähigkeit sei auch – überspitzt formuliert – an jedem weiteren Tag nach dem Stichtag eingetreten. Vielmehr betrifft der Aspekt, dass er sich für dauerhaft berufsunfähig hält, die vereinbarte Prognose, also in der Regel den Zeitraum von sechs Monaten. Die Ausführungen des BGH „beißen“ sich mit seinen früheren Feststellungen zur Art und Weise, wie der Eintritt einer Berufsunfähigkeit rückschauend zu prüfen ist. Dazu hat der BGH festgestellt, dass der weitere Krankheitsverlauf nach dem Stichtag grundsätzlich keine Berücksichtigung finden kann, da es dem Wesen einer – rückschauend auf ihre Richtigkeit überprüften – Prognoseentscheidung widerspräche, die Entwicklung nach dem entscheidenden Stichtag und damit einen späteren Erkenntnisstand in die Bewertung einzubeziehen. Der weitere Krankheitsverlauf kann deshalb auch nicht als Indiz für die Entscheidung herangezogen werden (BGH, Urt. v. 30.06.2010 - IV ZR 163/09 - VersR 2010, 1171 Rn. 33; BGH, Urt. v. 20.06.2012 - IV ZR 141/11 - RuS 2012, 499 m. Anm. Rogler, jurisPR-VersR 8/2012 Anm. 1; OLG Nürnberg, Urt. v. 07.11.2022 - 8 U 2115/20 - VersR 2023, 30, zum Nachprüfungsverfahren). Soll dies nun alles nicht mehr gelten und doch der weitere Krankheitsverlauf einbezogen werden? Denn dies wäre zwingend erforderlich, wenn auch alle denkbaren Zeitpunkte nach dem eigentlichen Stichtag geprüft werden müssten. Es ist zu hoffen, dass der BGH hier schnell Gelegenheit erhält, sich eindeutig zu positionieren.
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