Visumantragstellungsfrist beim Kindernachzug zum anerkannten FlüchtlingLeitsätze 1. Sind nachzugswillige Kinder eines als Flüchtling anerkannten Elternteils zum Zeitpunkt der Visumantragstellung volljährig, besteht kein Anspruch auf Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG. Ein solcher Anspruch kann allerdings unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG folgen (Bestätigung von BVerwG, Beschl. v. 23.04.2020 - 1 C 16/19 Rn. 11 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr 113). 2. Eine bei der Ausländerbehörde abgegebene sogenannte fristwahrende Anzeige nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 i. V. m. Satz 3 AufenthG stellt keinen Visumantrag i.S.d. § 81 Abs. 1 AufenthG dar. 3. Die Versäumung der Frist für die Visumantragstellung kann nachzugswilligen Kindern nicht entgegengehalten werden, wenn eine hinreichende Information über die Frist und die zu ihrer Einhaltung erforderlichen Maßnahmen nicht erfolgte und die Überschreitung der Frist aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar war. - A.
Problemstellung Das zu besprechende Urteil des 1. Senats des BVerwG vom 29.08.2024 (1 C 9/23) behandelt visumrechtliche Rechtsfragen der Familienzusammenführung eines volljährig gewordenen Kindes mit seinem als Flüchtling anerkannten Elternteil.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Gegenstand des Rechtsstreits ist die begehrte Erteilung eines nationalen Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung von im Zeitpunkt der Asylantragstellung des Stammberechtigten minderjährigen, zwischenzeitlich jedoch volljährig gewordenen Kindern mit einem als Flüchtling anerkannten Elternteil. Die Botschaft der beklagten Bundesrepublik Deutschland lehnte die Visumanträge ab. Die hierauf erhobene Klage hat Erfolg gehabt. Das BVerwG hat die Revision der Beklagten gegen das Urteil des VG zurückgewiesen.
- C.
Kontext der Entscheidung Hinsichtlich der Prüfung der Voraussetzungen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an ein Kind ist sorgsam zwischen verschiedenen Beurteilungszeitpunkten zu differenzieren. Für die Beurteilung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzuges ist wie auch im Übrigen bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich, sofern nicht materielles Recht eine abweichende Anknüpfung gebietet. Dies ist hinsichtlich der altersmäßigen Voraussetzungen der Fall. Soweit eine Altersgrenze einzuhalten ist, darf diese bei Antragstellung nicht überschritten sein (BVerwG, Urt. v. 07.04.2009 - 1 C 17/08 Rn. 10 - BVerwGE 133, 329; BVerwG, Urt. v. 29.11.2012 - 10 C 11/12 Rn. 14 - BVerwGE 145, 172; BVerwG, Urt. v. 29.08.2024 - 1 C 9/23 Rn. 13), wobei im Rahmen eines Verlängerungsantrages § 85 AufenthG zur Anwendung gelangt. Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung für die Altersgrenze soll es dem nachzugswilligen Kind allerdings nicht ermöglichen, Sachverhaltsänderungen zu seinen Gunsten nach Erreichen der Altersgrenze geltend zu machen, die bei rechtmäßiger Bescheidung seines Antrags nie zu einem Anspruch hätten führen können. Deshalb müssen die übrigen Anspruchsvoraussetzungen sowohl im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze als auch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts vorgelegen haben (BVerwG, Urt. v. 26.08.2008 - 1 C 32/07 Rn. 16 - BVerwGE 131, 370; BVerwG, Urt. v. 29.11.2012 - 10 C 11/12 Rn. 14 - BVerwGE 145, 172; ferner BVerwG, Beschl. v. 02.12.2014 - 1 B 21/14 Rn. 6; BVerwG, Urt. v. 29.08.2024 - 1 C 9/23 Rn. 13). Daraus folgt, dass nach dem Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres eingetretene Sachverhaltsänderungen zugunsten des Betroffenen grundsätzlich nicht berücksichtigt werden können. Der Anspruch eines im Zeitpunkt der Asylantragstellung des Stammberechtigten minderjährigen, im Zeitpunkt der Visumantragstellung volljährig gewordenen Kindes eines Flüchtlings folgt nicht aus § 32 Abs. 1 AufenthG, sondern unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG. Einer Auslegung des § 32 Abs. 1 AufenthG dahin, dass sich die Minderjährigkeit des Kindes anhand des Zeitpunkts der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils beurteilt (in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 01.08.2022 - C-279/20 Rn. 54), widerstreitet, dass die Norm nicht allein den Kindernachzug zu anerkannten Flüchtlingen, sondern gleichermaßen auch den Kindernachzug zu allen anderen in Deutschland aufenthaltsberechtigten Ausländern mit Ausnahme der subsidiär Schutzberechtigten regelt und daher der für die Minderjährigkeit maßgebliche Zeitpunkt nach geltendem nationalen Recht einheitlich zu bestimmen ist. Als für sämtliche Fallgruppen sachgerechter einheitlicher Zeitpunkt kommt aber nur der Zeitpunkt der Beantragung des Visums zur Familienzusammenführung in Betracht. Ein abweichendes Normverständnis stünde in Widerspruch nicht nur zu der gesetzlichen Systematik, sondern auch zu dem Willen des Gesetzgebers. Zur Auflösung der partiellen Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Rechts (BVerwG, Beschl. v. 23.04.2020 - 1 C 16/19 Rn. 10 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr 113; BVerwG, Urt. v. 29.08.2024 - 1 C 9/23 LS 1 und Rn. 14) bedarf es einer ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers. Nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. c Satz 1 RL 2003/86/EG gestatten die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Art. 16 RL 2003/86/EG genannten Bedingungen gemäß dieser Richtlinie den minderjährigen Kindern, einschließlich der adoptierten Kinder des Zusammenführenden, die Einreise und den Aufenthalt, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. Die Norm findet unmittelbare Anwendung (BVerwG, Beschl. v. 23.04.2020 - 1 C 16/19 Rn. 11 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr 113; BVerwG, Urt. v. 29.08.2024 - 1 C 9/23 Rn. 17). Gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann bei dem Ehegatten und dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 AufenthG besitzt, von den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 und des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden. Nach § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist in den Fällen des § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG von diesen Voraussetzungen abzusehen, wenn 1. der im Zuge des Familiennachzugs erforderliche Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt wird und 2. die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem Staat, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist und zu dem der Ausländer oder seine Familienangehörigen eine besondere Bindung haben, nicht möglich ist. Gemäß § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG wird die in § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG genannte Frist auch durch die rechtzeitige Antragstellung des Ausländers gewahrt. Eine auf dieser Grundlage bei der Ausländerbehörde abgegebene sogenannte fristwahrende Anzeige des Stammberechtigten nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. Satz 3 AufenthG stellt keinen Visumantrag i.S.d. § 81 Abs. 1 AufenthG dar ( BT-Drs. 16/5065, S. 172; BVerwG, Urt. v. 29.08.2024 - 1 C 9/23 LS 2 und Rn. 15). Die fristwahrende Anzeige nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. Satz 3 AufenthG durch den stammberechtigten Ausländer ersetzt nicht die persönliche Antragstellung durch den nachzugswilligen Familienangehörigen i.S.d. §§ 71 Abs. 2 und 81 Abs. 1 AufenthG und die damit einhergehende, im Hinblick auf die Identitätsklärung grundsätzlich erforderliche Vorsprache bei der zuständigen Auslandsvertretung (BVerwG, Urt. v. 29.08.2024 - 1 C 9/23 LS 2 und Rn. 15 f.; zuvor bereits OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 19.01.2022 - OVG 3 M 185/20 Rn. 9 - NVwZ-RR 2022, 1012). Auf den Zeitpunkt, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat, ist für die Bestimmung der Minderjährigkeit des zwischenzeitlich volljährig gewordenen Kindes dann abzuheben, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt wurde (EuGH, Urt. v. 01.08.2022 - C-279/20 Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 29.08.2024 - 1 C 9/23 Rn. 18 f.). Indes kann eine Versäumung dieser Drei-Monats-Frist nachzugswilligen Kindern für den Fall nicht entgegengehalten werden, dass eine hinreichende Information über die Frist und die zu ihrer Einhaltung erforderlichen Maßnahmen nicht erfolgte und die Überschreitung der Frist aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar war (BVerwG, Urt. v. 29.08.2024 - 1 C 9/23 LS 3 und Rn. 20). Dies folgt aus einer entsprechenden Anwendung der im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG geltenden Grundsätze und insbesondere des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes, dem zufolge verfahrensrechtliche Regelungen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (BVerwG, Urt. v. 29.08.2024 - 1 C 9/23 Rn. 20 f.).
- D.
Auswirkungen für die Praxis Das BVerwG ruft in dem besprochenen Urteil seine langjährige Rechtsprechung zu den unterschiedlichen Zeitpunkten für die Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Kindernachzug in Erinnerung. Des Weiteren bekräftigt es seine Rechtsprechung, dass Grundlage des Anspruchs eines im Zeitpunkt der Asylantragstellung des Stammberechtigten minderjährigen, im Zeitpunkt der Visumantragstellung volljährig gewordenen Kindes eines Flüchtlings nicht § 32 Abs. 1 AufenthG, sondern Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG ist. Diese Rechtsprechung sollte dem Gesetzgeber Veranlassung geben, die §§ 27 ff. AufenthG entsprechend anzupassen. Schließlich stellt es klar, dass die fristwahrende Anzeige gegenüber der Ausländerbehörde einen bei der Auslandsvertretung zu stellenden Visumantrag nicht zu ersetzen vermag.
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